Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq. Lena Schönwälder

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wohnen sogar dem Ekelhaften gewisse ästhetische Qualitäten inne, wobei es in seinen Wirkungs­weisen dem Erhabenen ähnlich ist. Trotzdem sind dem Ekelhaften als ästhetische Kategorie gewisse Grenzen gesetzt, wie Brittnacher bemerkt:

      Die unhintergehbare Verpflichtung des narrativen Diskurses auf das Prinzip der Sukzession muß die phantastische Prosa um die ersehnte skandalöse Wirkung bringen. Die hyperbolische Darstellung des Abartigen und die ausufernde Be­schreibung seiner Vernichtung enden unweigerlich in einer repetitiven Suada des Unappetitlichen. Der Ekel kennt – das ist sein ästhetisches Manko – keine Innovation, sondern bestenfalls Verstärkung durch das wiederholte Herabsetzen von Hemm­schwellen. Doch sind diese schon im ersten Ekelaffekt gefallen.34

      Gerade in der Literatur ist die Darstellung des Ekelhaften an die Sukzession der Narration gebunden. Ist eben einmal der Ekel auf den Plan gerufen worden, so kennt er keine (ästhetische) Steigerung mehr, sondern nur noch die Wiederholung, welche letztendlich den ursprünglich wirksamen Reiz abnutzen wird. Damit ist auch der Ekel als Anderes des Ästhetischen und Maximalaffekt nur vorübergehend ästhetisch wirksam.

      1.2.5 Das Obszöne

      Dem Ekel bzw. dem Ekelobjekt als Wirkungskategorie in gewisser Weise anverwandt ist auch das Obszöne. Zwar handelt es sich hierbei im Unterschied zum Ekel nicht um einen Primäraffekt, sondern vielmehr um ein Zuschreibungsphänomen, das ihm jedoch in seiner Wirkungsweise durch die Intensität der produzierten Emotionen (die bisweilen gar den Ekel involvieren können) nahekommt. Was dabei ganz konkret obszön eigentlich ist, erweist sich als schwer fassbar. So lauten Ludwig Marcuses einleitende Worte zum Vorverständnis des Obszönen in seiner Monographie Obszön. Geschichte einer Entrüstung wie folgt: »Das lehrt die lange Geschichte: obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst.«1 Dieses obszöne »wer oder was« betrifft dabei vornehm­lich den Sexual- oder Fäkalbereich und kennt laut Duden eine Vielzahl an Synonymen: anrüchig, anstößig, anzüglich, doppeldeutig, frivol, nicht salonfähig, pikant, pornographisch, schamlos, unanständig, zweideutig; dreckig; nicht stubenrein, schlüpfrig, schmutzig, zotig; ordinär; unflätig; vulgär; schweinisch, säuisch. Zwar lässt es sich mit einer Vielzahl von Begriffen be- und umschreiben, bleibt aber dennoch im Kern schwer greifbar – nicht zuletzt, da es sich um eine äußerst subjektive Erlebniskategorie handelt, die sich kaum empirisch fassen lässt. Es sei »eine Gleichung mit mindestens sechs Unbekannten«, so Marcuse, was jedoch besonders auch die Justiz in der Vergangenheit nicht davon abgehalten hat, sich an einer Definition zu versuchen.2 Zweifellos ist das Obszöne (in der Kunst) historisch wandelbar: Die Texte, derer sich Marcuse annimmt – Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Flauberts Madame Bovary (1857) und Baudelaires Fleurs du mal (1857), D.H. Lawrences Lady Chatterley’s Lover (1960), Henry Millers Tropic of Cancer (1934) –, sind indessen längst in den Kreis kanonischer Höhenkammliteratur aufgenommen worden. Laut Stefan Morawski in einem Aufsatz mit dem Titel »Art and Obscenity« aus dem Jahre 1967 erklärt sich dies durch die zunächst falsche Rezeption der betreffenden Texte: Es handele sich um ein Missver­ständnis zwischen einem Werk, das im Grunde nicht den geringsten Angriff auf die sexuelle Imagination ausübe, und einer Leserschaft, die es nach nicht-ästhetischen Stan­dards gemäß ihren eigenen moralischen Tabus beurteilen würde. So erläutert Morawski, dass das obszöne Zeichen durchaus nicht mit einem Mangel an Literarizität einhergehe und führt aus, wie es künstlerisch transformiert, quasi neutralisiert werden könne, indem es im Medium der Sprache symbolhaften Charakter erhält, ästhetisiert, intel­lektualisiert und poetisiert wird.3 Die Werke Millers und Lawrences dürften nicht in Hinblick auf die explizite Darstellung sexueller Handlungen hin gelesen werden, sondern in Hinsicht auf den poetischen und philosophischen Gehalt, der sie von der gemeinen Porno­graphie absetze.4 Hier wird die Problematik des Obszönen in der Kunst ganz deutlich: Es bedarf dessen Rechtfertigung (poetischer, inhaltlich-struktureller, philoso­phischer Natur), um den Kunstcharakter nicht einzubüßen. Ist es dergestalt nicht plausibili­sierbar, driftet das Obszöne ab in die Pornographie, die wie folgt definiert wird:

      gesteigerte Form der erotischen Lit. mit ästhetisch, kompositorisch, stilistisch und lit. wertlosen, ausführl. Beschreibungen geschlechtl. Vorgänge (Geschlechtsverkehr, Sexualpraktiken, Perversionen), ohne jeden qualifizierten Kunstanspruch mit der zentralen Wirkungsabsicht sexueller Stimulierung und daher stets unoriginell, monoton in Wiederholung und Steigerung (›Nummerndramaturgie‹) und das schickliche Maß des noch vertretbaren Geschmacks zum Obszönen hin übersteigend. […] Auch die Lit. kann sehr wohl in kompositorisch vertretbarem Maß und aus dem ehrl. Streben nach Erfassung des ganzen Menschen in Einzelszenen (›Stellen‹) zu e. erot. Realismus in der Darstellung des Sexuellen gelangen, aber sie wird die Darstellung der Sexualsphäre stets nur als Mittel zum Aufzeigen menschl. Befind­lichkeit, nicht aber als Selbstzweck oder in nur triebsteigernder Absicht benutzen.5

      Das Pornographische ist also nicht-literarisch und verfolgt eine andere Wirkungsstrategie als das obszöne Kunstwerk; es will nichts anderes als die körperliche Erregung: »Sie verlangt nicht vergrößerte geistige Anstrengung, sie will entspannen. Sie lebt geradezu von der Verleugnung und Tabuisierung des Geistigen.«6 Doch diese Form der körperlichen Lust am Text ist eine nicht-ästhetische und von literaturwissenschaftlicher Warte aus zunächst problematische Lust.7 In Karl Rosenkranz’ 1853 erschienener Ästhetik des Häßlichen ist diese Form der Erregung gänzlich verpönt: »Alle Darstellung der Scham und der Ge­schlechts­verhältnisse in Bild oder Wort, welche nicht in wissenschaftlicher oder ethischer Beziehung, sondern der Lüsternheit halber gemacht wird, ist obszön und häß­lich« (meine Hervorhebung).8 Pikante Darstellungen des Sexuellen sind also nur dann lizenziert, wenn sie einem höheren Zweck dienen, so z.B. in der Satire der korri­gierenden Belehrung. Dass aber gerade diese kreatürliche Lust weitestgehend ausge­blendet wird, muss theoretisch widersinnig erscheinen, wenn es doch die Literatur ist, die die höchsten Empfindungen hervorzurufen vermag:

      Generationen von Lesern Shakespeares und Schillers und Byrons und Dostojewskis danken den Meistern ungeheure Steigerungen der Emotionen. Mit Ausnahme der sexuellen? Indem die sogenannten Liberalen leugneten, daß die große Literatur die erotische Phantasie stachle, verdeckten sie höchst illiberal einen ihnen unbequemen Zustand der Dinge. Sie wollten unter keinen Umständen den Boden der Tradition verlassen, die vorschrieb: das Geschlechtliche ist nur zugelassen, wenn es im poetischen Äther verdunstet.9

      Dass das Faktum des Obszönen im Kunstwerk nach wie vor problematisch ist und eine Unterscheidung von obszön und pornographisch vorgenommen wird, zeigt die bereits zitierte, relativ aktuelle Definition von Pornographie aus dem Jahre 2001.10

      In der Postmoderne schließlich wächst das Interesse im Besonderen an de Sade und die pornographische Kunst (man verzeihe das vermeintliche Oxymoron) wurde damit quasi zu einer neuerlichen Erkenntnisquelle promoviert.11 Auch hier sei erneut auf Bataille verwie­sen, der einerseits mit seinen Sachschriften L’Érotisme (1957) und La Littérature et le mal (1957), andererseits aber auch mit seinem sogenannten obszönen Prosawerk (L’Histoire de l’œuil, 1967; Madame Edwarda, 1956; Ma Mère, 1966; Le Petit, 1963; Le Mort, 1967) den Bereich der Sexualität und des Obszönen (neben dem Bösen) als Raum der Überschreitung und Verausgabung herausarbeitete, der in scharfer Opposition zur Herrschaft der Vernunft in der modernen Gesellschaft steht. Susan Sontag stellt denn in ihrem Aufsatz »Die pornographische Phantasie« (1968) auch fest, dass die der Pornographie attestierte Ein­deu­tigkeit der Wirkungsabsicht indessen gar nicht so transparent ist, wie stets ange­nom­men:

      Die körperlichen Empfindungen, die ungewollt im Leser erweckt werden, enthalten etwas, das die ganze Erfahrung seiner Menschlichkeit – und seiner Grenzen als Persönlichkeit und als Körper – betrifft. In Wahrheit ist die Eindeutigkeit der Intention in der Pornographie unecht. Nicht hingegen die Aggressivität, die in dieser Intention zum Ausdruck kommt. Was in der Pornographie Endzweck zu sein scheint, ist ebenso sehr ein Mittel von alarmierender und bedrückender Konkretheit. Der Endzweck freilich ist weniger konkret. Die Pornographie ist […] ein Zweig der Literatur, der auf Desorientierung, auf psychische Verwirrung, ausgerichtet ist.12

      Sontag