Название | Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens |
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Автор произведения | Wolfram Lutterer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Systemische Horizonte |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783849783426 |
Was aber versteht Nietzsche selbst in diesem Zusammenhang als »gut«? Gut sei »alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht«49. Die Schwachen hingegen mögen zugrunde gehen. Nietzsche wünscht sich die »Züchtung« eines neuen Menschen, und er wünscht sich für diesen ausdrücklich nicht »Zufriedenheit«, sondern »Macht«; nicht »Friede«, sondern »Krieg«; nicht »Tugend, sondern »Tüchtigkeit«. Nietzsche: Prophet oder gar Wegbereiter des Nationalsozialismus? Eine vielerorts wiederholt kontrovers diskutierte Frage.
Das bundesdeutsche Strafrecht spiegelt im Übrigen bis heute die während des Nationalsozialismus initiierte und durch Nietzsches Denken durchaus mit inspirierte Unterscheidung von Mord und Totschlag aus dem Jahre 1941: Es ist der körperlich Starke, der bei vollzogenem Totschlag bis heute weniger streng bestraft wird als der Schwache, der »heimtückisch«50 »mordet«.
Aus heutiger Perspektive ist Nietzsche mit seinem ausgesprochenen Antisemitismus sowie seinen Wendungen von »Herren-Rasse« und von »Ariern«51 bis hin zu seiner Begeisterung von »blonden Raubtiere«52 häufig nur schwer lesbar. Interessant bleibt jedoch der zunächst aufklärerisch anmutende Impuls: Woher kommen eigentlich unsere Vorstellungen von Gut und Schlecht – wenigstens bis hin zu jener Kippbewegung, die im Konzept des »Übermenschen« endet? Nietzsches Denken könnte durchaus lehrreich dafür sein, dass vielversprechend erscheinende Anfänge nicht unbedingt zu einem guten Ende führen müssen.
Damit ergibt sich ein weiterer Missklang in unserer kleinen Ahnenreihe: Die Dekonstruktion von Wertideen, wie Nietzsche sie entwickelt, könnte zunächst einmal eine wertvolle Facette in der Reflexion unserer Wertvorstellungen darstellen. Sie führt bei ihm jedoch zu einer autokratischen Vorstellungswelt, fernab jeglicher konstruktivistisch-reflexiver Anteile. Letztlich singt er bloß ein Lob der Stärke und bejubelt die Unterwerfung der Schwächeren durch die Stärkeren im Sinne von »Raubvogel« und »Lamm«.53 In diesem Zusammenhang steht auch seine Vorstellung des sogenannten »Übermenschen«.
Ironischerweise war Nietzsche selbst, der später psychisch schwer erkrankte, nahezu zeit seines Lebens kränklich gewesen. Es war der Schwache, der vom Starken träumte. Nietzsche steht mit seiner Philosophie am relativen Anfang und somit stellvertretend für eine ganze Reihe von Irritationen, die in der Folgezeit ausgelöst wurden.
Aus einer systemischen Perspektive liest sich Nietzsches Philosophie schlussendlich als entschiedener Gegenentwurf hierzu: Es geht um den Einzelnen gegen die anderen, die »Schwachen«. Es geht um Selbsterhöhung, nicht um Interaktion. Kooperation und wechselseitige Hilfe sind allenfalls ein Zeichen der Schwäche, wenn nicht gar der Heimtücke. Entwickelt Nietzsche damit wenigstens Ansätze einer konstruktivistischen Philosophie? Wohl eher nicht.
Damit endet dieser kurze Weg durch die Neuzeit. Nur fünf Autoren standen stellvertretend für viele. Sie stehen allerdings paradigmatisch für relevante, sich teilweise befruchtende, teilweise sich widersprechende Strömungen unserer Geistesgeschichte. Wenn man so will, so setzt sich hier nur jener Streit fort, der bereits in der Antike anhob: Was ist Wahrheit? Gibt es überhaupt Wahrheit? Was ist Erkenntnis? Es zeigt sich aber auch, dass konstruktivistische und systemische Denkweisen so langsam an Fahrt aufnehmen. Die Neuzeit bereitet zudem den intellektuellen Boden für eine grundlegende Revision wissenschaftlichen Denkens, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt.
*Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 13 ff. Besonders anschaulich beschreibt Gregory Bateson diese Form des Kategorienfehlers. Solche Denk- oder Sprechweisen entsprächen derjenigen, »die Speisekarte anstelle der Mahlzeit zu essen« (Ökologie des Geistes, S. 363).
*Soweit Manfred Geier, Eine Revolution der Denkart, in: Pörksen: Schlüsselwerke des Konstruktivismus, S. 31. Geier referiert hierbei nicht nur ausführlich Kant als Konstruktivisten, sondern reflektiert insbesondere dessen Verhältnis zu Vico. (Man beachte im Übrigen die teils divergierende »Ahnenreihe« in Pörksens Schlüsselwerken.)
*Hierzu später ausführlicher bei Gregory Batesons Theorie der Kommunikation.
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