Der blaue Vorhang. Ingo Rose

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Название Der blaue Vorhang
Автор произведения Ingo Rose
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783955102661



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      Barbara Sichtermann · Ingo Rose

       Der blaue Vorhang

       Isadora Duncan. Ihr Leben, ihr Tanz

      Romanbiografie

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      Erste Auflage 2021

      © Osburg Verlag Hamburg 2021

      www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-95510-260-9 eISBN 978-3-95510-266-1

      Inhalt

       IDie Eroberung des großen Publikums

       IIDie Quellen der Kunst

       IIIDie Schule und die Begegnung mit Craig

       IVAuf Tournee und die Begegnung mit Singer

       VEin Eheversuch und ein furchtbarer Unfall

       VIDer Krieg und die Marseillaise

       VIIRussland und die Begegnung mit Jessenin

       VIIIDie Botschafterin der Revolution

       IXDie letzten Jahre

       Epilog

       Editorische Notiz

       Literatur

       Abbildungsnachweis

      I

      Die Eroberung des großen Publikums

      Die Pariser Weltausstellung im Sommer 1900 bot viele grandiose Neuheiten, von denen etliche im zwanzigsten Jahrhundert ganz selbstverständlich zum Alltag gehören würden, darunter die Rolltreppe, der Dieselmotor und die Untergrundbahn. Mit der großen Industrie- und Kulturenschau sollte zum Höhepunkt der Belle Époque eine Bilanz des Jahrhunderts gezogen werden. Auf einem Fahrsteig aus Holz konnten die Besucher das gesamte Ausstellungsgelände umrunden, ein typisches Schweizer Dorf war aufgebaut worden und auch eine kambodschanische Grotte, chinesische Pagoden und tunesische Bazare. Eine komplett neue Brücke über die Seine wurde eingeweiht. Und ein Riesenrad mit hundert Metern Durchmesser stand auch noch da.

      Auf dem Marsfeld und der Place du Trocadéro, im Bois de Vincennes und auf der Esplanade des Invalides waren nicht nur technische, sondern auch künstlerische Sensationen zu bewundern. Die Brüder Lumière führten die ersten bewegten Bilder vor, der Bildhauer Auguste Rodin hatte seinen eigenen Pavillon, in dem erstmals fast alle seine Werke gezeigt wurden, und eine amerikanische Performerin namens Loïe Fuller faszinierte durch eigenartige »Lichttänze«. Es gab nun noch eine Persönlichkeit, die als Verwandlerin, Neuerin, ja Revolutionärin einer erstarrten Kunstform auftreten sollte – sie war auf der Weltausstellung allerdings nur im Publikum anwesend. Die 23-jährige junge Frau stammte aus Kalifornien, sie war über London nach Paris gereist, um die Welt kennenzulernen. Und die Kunstform, die sie ganz und gar neu erfinden und bekannt machen sollte, war der Tanz. Sie hieß Isadora Duncan.

      Zeitgleich mit der Weltausstellung und in ihrem Rahmen fanden die Olympischen Spiele statt. Es waren die zweiten der Neuzeit. Allerdings nahm niemand sie gebührend zur Kenntnis, ja, sie sind im Trubel der Exposition Universelle regelrecht untergegangen. Nicht einmal Isadora Duncan, die es während der Sommermonate fast täglich zum Areal der Ausstellung zog, nahm von den Sportereignissen Notiz. Das verwunderte ihren Begleiter Charles Edward Hallé, einen englischen Maler, den Isadora von London her kannte und der zur Weltausstellung nach Paris gereist war. Er traf seine Freundin im Pavillon Rodin und küsste ihr erfreut die Hände.

      »Ich habe Sie im Sportstadion vermutet«, sagte er. »Aber wie ich sehe, ziehen Sie die Skulptur dem lebendigen Körper vor.«

      Isadora lachte. »Darüber müssen wir reden. Schauen Sie sich die Halslinie dieser Plastik an, lieber Charles, ist sie etwa nicht lebendig? Und schön dazu? Die schwitzenden Körper der Athleten, die um die Wette rennen und aus ihrer Muskulatur Werkzeuge machen, die ihnen irgendeinen Sieg bescheren sollen, interessieren mich überhaupt nicht …«

      »Aber die Olympiade«, unterbrach Hallé, »ist doch eine griechische Idee! Die muss Sie doch begeistern. Haben Sie mir nicht in London immer wieder erklärt, dass es die alten Griechen seien, die mit ihrer Demokratie, ihrer Philosophie und ihren Künsten schlichtweg als Vorläufer unserer Zivilisation gelten müssen – sogar der amerikanischen?«

      »Ach, Charles«, Isadora legte eine Hand auf Hallés Schulter, »Sie haben völlig recht und auch wieder nicht. Die Alten haben gewusst, was Schönheit ist und wie man sie hervorbringt, weil sie wussten, was Natürlichkeit ist. Ich war im Frühjahr Tag für Tag im Louvre und habe mir die griechischen Vasen mit den Abbildungen tanzender menschlicher Körper angesehen. Was für eine Vollendung der Form! Welch einfache Eleganz! Aber wir heute? Schauen Sie sich um, lesen Sie die Zeitungen. Überall wird gewetteifert, es geht nur um Preise, um Titel, um den ersten Platz. Um schnöden Mammon! Um Banalitäten. Wäre das im Sinne der Griechen? Ich glaube nicht.«

      Hallé nickte. »So kenne ich Sie, Isadora, immer in Grübeleien versunken: Wie nur finden wir zurück zu den Griechen …«

      »Auf keinen Fall durch solche Fetische wie Medaillen und Siegertreppchen.«

      »Kann es sein, dass Sie die Antike idealisieren?«

      »Ja, das kann sein. Aber ich brauche dieses Ideal für meine Kunst. Sie müssten das doch verstehen – mit Ihrer Loyalität zu den Präraffaeliten! Übrigens: Haben Sie Winckelmann gelesen?«

      Mit Hallé konnte Isadora über all das reden, was ihr tagein, tagaus durch den Kopf ging, was ihre Gedanken beherrschte und sie unablässig ebenso quälte wie beseelte. Sie war eine Tänzerin. So sagte man, und so sagte sie auch selbst, vor allem, wenn sie sich um Auftritte bewarb, weil sie Geld brauchte. Aber immer wieder hat sie sich auch entschieden dagegen verwahrt, als Tänzerin bezeichnet zu werden. Denn dadurch, fand sie, würden falsche Assoziationen geweckt. Ein junges Mädchen in leichtem Gewand, das sich hin und her wiegt und den Umriss seines Körpers sehen lässt, das die Beine wirft und dann womöglich noch Kusshände ins Publikum – mit solchen frivolen Gesten wollte sie rein gar nichts zu tun haben. Ihr ging es um ganz etwas anderes: um den persönlichen Ausdruck des inneren Erlebens eines Menschen durch den Körper. Sie wollte das Leben selbst durch Bewegung zur Kunst erhöhen. Nein, darunter machte sie es nicht. Sie hatte schon als Kind getanzt, und immer weiter ihre ganze