Ferris Tucker wälzte sich unruhig auf der alten Matratze hin und her, die ihm als behelfsmäßiges Lager in einem Schuppen auf der Werft des alten Ramsgate diente. Er lag im Halbschlaf, aber irgend etwas störte ihn. Dann wachte er auf. Hatte sich die Geräuschkulisse verändert? Ja, zu dem Knacken und Ächzen im Gebälk des Schuppens hatte sich ein eigenartiges Knistern gesellt, das zunehmend lauter wurde. Was war das? Der Schiffszimmermann stemmte sich von seinem Lager hoch, gähnte herzhaft und öffnete nach wenigen Schritten die Schuppentür. Was er sah, raubte ihm fast den Verstand. Feuer! Feuer im Spantengerippe der neuen «Isabella»! Die Flammen leckten bereits an verschiedenen Stellen gierig an den Decksbalken hoch…
Wegen der Mumien an Bord waren die Seewölfe aus dem Häuschen, und der Krach war da. Ja, Carberry ging auf seinen Kapitän los, stur wie ein Büffel und zu allem entschlossen. Der Seewolf explodierte jäh und wild. Alles, was sich seit Ferris Tuckers Verweigerung , den zweiten Schrein zu öffnen, in ihm angestaut hatte, lag in seiner rechten Faust. Sie krachte dem Profos als Haken unter das Kinn. Ein Stöhnen durchlief die Crew – und die Zwillinge hatten tellergroße Augen. Das war ein Schlag, mit dem man Ochsen fällte. Dem Profos erging es um keinen Deut anders. Es hob ihn buchstäblich aus den Stiefeln, und er pfiff aus dem letzten Loch, der eisenharte Profos…
Brüllend und schnaubend bewegten sich Millionen Tonnen Wasser hochaufgerichtet durch das Meer. Es war die Riesenwelle – der Tsunami, wie sie von Eingeborenen der Inseln genannt wurde. Kein Schiff hätte ihr davonsegeln können, Ihre Geschwindigkeit wuchs mit jeder Sekunde, eine höllische Gewalt schob sie vorwärts. Jetzt befand sie sich höchstens noch eine Meile vom Strand der Nordseite der Insel entfernt, auf deren felsgeschützter Südseite die Seewölfe mit ihrer «Isabella» einen einigermaßen sicheren Ankerplatz gefunden hatten. Aber die Riesenwelle würde die halbe Insel überspülen und alles unter sich begraben…
Die Jolle war knapp vor der Grottentreppe, zu der Mac Pellew die ertrinkende Frau durchs Wasser geschleppt hatte, da wimmelte es plötzlich von Kerlen, die wie aus dem Nichts zwischen den Felsen aufgetaucht waren. Und alle hielten sie Pistolen oder Musketen in den Fäusten. Was das für Kerle waren, brauchte niemand den vier Arwenacks zu sagen. Das waren Galgenvögel der übelsten Sorte. Die Weiber bei ihnen waren genauso schlimm, vor allem jene, die ihnen das Ertrinken vorgespielt hatte. Dieses Weib verpaßte dem guten Mac einen bösen Knietritt, so daß er die Treppe hochflog und unsanft landete. Und schon hielt ihm ein dunkelhaariger Mann mit einem eiskalten Gesichtsausdruck ein Messer an die Kehle. «Scheiße!» sagte der Kutscher erbittert. «Scheiße, verfluchte…»
Auf dieser Welt – oder dem, was von ihr bekannt war – konnte es solche seltsamen Tiere eigentlich gar nicht geben, wie sie die Seewölfe jetzt entdeckt hatten. Sie flohen parallel zum Flußlauf, aber dabei schlugen sie Haken. Diese Biester waren so groß wie Menschen, hatten mächtige Hinterbeine und vergleichsweise winzige Vorderläufe. Ihr Fell war grau, und die Kopfform erinnerte entfernt an europäische Hasen. Mit ihren muskulösen Hinterbeinen vollführten sie riesigen Sprünge – und einige hatten einen Beutel vor dem Bauch, eine Tragetasche, aus dem ein winziges Tier herausschaute…
Die «Saint Croix» war abgefallen, lief mit westlichem Kurs auf die Ausfahrt der Bucht zu und bot der «Isabella» ihre Backbord-Breitseite dar. Die Piraten schrien durcheinander, hantierten mit den Luntenstöcken und senkten sie auf die Bodenstücke ihrer Geschütze. Gleichzeitig mit den schweren Culverinen der «Saint Croix» donnerte die Flaschenbombe los, die Ferris Tucker genau auf die Mitte der feindlichen Kuhl gezielt hatte. Batutis erster Brandpfeil bohrte sich in das Großsegel der Piraten-Galeone. Es krachte und toste, und plötzlich schien das Inferno seine Tore geöffnet zu haben…
Mit einem unterdrückten Stöhnen flog Hasard außenbords. Die Besanrute hatte seinen Brustkorb getroffen. Er hatte das Gefühl, zerquetscht zu werden. Seine Lungen schienen eingeklemmt zu sein, er hatte nicht mehr die Kraft, zu schreien. Eine unsichtbare Macht fegte ihn von Deck seines Schiffes. Er stürtzte in einen wild kreisenden, schwarzen Sog, der ihn in unendliche Tiefen riß. Er nahm kaum wahr, wie die Fluten über ihm zusammenschlugen. Alles schien in tiefster Finsternis zu versinken, jedes Gefühl erstarb. Die Schmerzen klangen ab und wichen einem trägen Gefühl der Erlösung und Sorglosigkeit, und genau das war der kritischste, gefährlichste Punkt…
Am Bug der schlanken, spanischen Galeasse stieg eine graue Wolke hoch, und Sekunden später klatschte kaum einen Faden von der «Mercure» entfernt eine Kugel ins Wasser und stieß eine Fontäne hoch. Es war ein Warnschuß gewesen, und das Geschoß hatte verdammt gut gelegen. Ferris Tucker, der am Backbordschanzkleid stand, erkannte, daß der Offizier der Seesoldaten auf der Galeasse sein Handwerk verstand. In diesem Moment erwischte die erste Bö die «Mercure» und füllte die Segel. Carberry brüllte seine Befehle hinaus. Die Männer, Franzosen und Seewölfe, hasteten über die Decks. Dann rauschte die «Mercure» ab. Der Sturm hatte im richtigen Augenblick eingesetzt. Jetzt waren sie es, die der Galeasse davonsegelten. Aber die Dons würden nicht aufgeben…
Ein Brandpfeil, abgefeuert von Big Old Shane, dem früheren Waffenmeister von Arwenack Castle, stach in zitternder Bahn auf die spanische Dreimast-Karavelle zu, senkte sich auf seiner Flugbahn und bohrte sich zischend ins Hauptdeck. Entsetzt starrten die Spanier auf dieses Teufelsding, in dessen Schaft ein Brandsatz verborgen war. Und dann explodierte der Brandpfeil. Was er anrichtete, war ungeheuerlich. Ein Funke mußte in eine der Pulverkammern geflogen sein, denn ein Feuerball stieg mit Getöse aus der Karavelle…
Die Spanier hatten geglaubt, der Schlupfwinkel der englischen Piraten sei geräumt worden, da aber erwachte die Schlangen-Insel zu einer beängstigenden Art von Leben. Feuerblitze zuckten aus den verborgenen Batteriestellungen hervor, es wummerte und krachte, Siebzehnpfünderkugeln heulten auf die Kriegsgaleonen zu. Gleichzeitig stiegen lodernde Fanale in den Morgenhimmel und senkten sich auf die Decks: Brand- und Pulverpfeile! Die ersten Treffer zerhieben die Schanzkleider und Decks der Schiffe, die ersten Verwundeten begannen zu schreien. Eine Kugel raste auf das Flaggschiff zu und flog in eine der offenen Stückpforten. Sie riß den Lukensüll weg, prallte auf eine der Culverinen und zerfetzte die Brooktaue…