Hesekiel Ramsgate richtete sich aus seiner bequemen Haltung auf. Er sah seine Männer an, allesamt wie er erfahrene Schiffbauer, aber auch rauhe Kämpfer, sofern sie zur Waffe greifen mußten. Er hob seinen schweren Humpen, der randvoll mit Wein gefüllt war.
„Auf unsere neue Heimat, Männer“, sagte er mit dunkler, wohlklingender Stimme. „Auf sie und auf alle Bewohner dieser Insel, denen wir unverbrüchliche Treue halten werden, gleich, was geschieht! Denn dies hier ist für uns alle ja wie ein Paradies, fast wie ein Traum!“
Beistimmendes Gemurmel erhob sich in der Runde, und auch die Männer des alten Ramsgate erhoben ihre Humpen. Recht hatte er, der alte Hesekiel. Die Insel wirkte auf sie wie ein Juwel. Das begann mit dem wirklich paradiesischen Klima, verglichen mit den rauhen Stürmen, die oft Rame Head umtobt hatten, und verglichen mit dem kalten, grauen Nebel, der nur allzuoft das ganze Land und die See tagelang eingehüllt hatte. Es setzte sich fort mit der Schlangenbucht, ihren langen sandigen Stränden, dem azurblauen Wasser der Bucht, den Palmen, die diesen Strand säumten und dem gewaltigen Felsendom, der alles überragend wie das Wahrzeichen der Insel in den Himmel zu wachsen schien.
Hesekiel Ramsgate warf einen Blick zu seiner neuen Werft hinüber, für die man im hinteren Teil der Schlangenbucht einen hervorragenden Platz gefunden hatte.
Sie machte gute Fortschritte. Die Helling, groß genug, um auch einen Viermaster wie den Schwarzen Segler aufzuslippen, war fast fertig. Ebenfalls wuchsen die Schuppen für Werkzeuge und Zubehör, für die Lagerung wertvoller Hölzer, die zum Schiffbau unerläßlich waren, empor. Aber alles fügte sich harmonisch in die Schlangenbucht ein.
Hesekiel Ramsgate und seine Männer waren zufrieden – mehr noch, sie waren geradezu glücklich, hier, auf der sagen- und legendenumwobenen Schlangeninsel ihre neue Heimat gefunden zu haben. Eine Heimat, die ihnen im Gegensatz zu England allen Frieden gewährte und in der sie mit jedermann, auch mit den Schlangenkriegern und Schlangenkriegerinnen Arkanas, gut auskamen.
Die Männer Ramsgates hatten es schon bald gespürt: Dies hier war eine Gemeinschaft, in der jeder für den anderen eintrat, ohne lange zu fragen. Und das gefiel ihnen allen besonders.
Der alte Ramsgate warf einen Blick zur „Wappen von Kolberg“ hinüber, die vor der Werft ankerte. Der kommende Tag würde eine Menge Arbeit bringen, denn auch die Galeone Arne von Manteuffels sollte aufgeslippt und dann vom Kielschwein bis zu den Toppen überholt werden. Außerdem hatte Ramsgate einige Modernisierungen vorgeschlagen. Zum Beispiel sollte die „Wappen von Kolberg“ anstelle des bisherigen Kolderstocks eine Ruderanlage erhalten, wie sie die „Isabella IX.“ und auch die anderen Neubauten bereits hatten. Außerdem sollte die Galeone mit höheren Masten und breiteren Rahen ausgerüstet werden, was ihre Geschwindigkeit bestimmt um einige Meilen erhöhen würde. Denn vom Rumpf her vertrug sie die größere Segelfläche leicht.
Hesekiel Ramsgate, der es trotz seiner Jahre noch mit vielen jüngeren ohne weiteres aufnahm, dabei aber zusätzlich über die Erfahrungen seines langen und bewegten Schiffbauerlebens verfügte, hob abermals seinen Humpen und trank den Männern am Feuer zu. Aber dann setzte er den Humpen plötzlich ab, und seine, wie die Blicke der übrigen Männer, richteten sich auf die beiden Ankömmlinge, die eben aus dem Dunkel in den Lichtkreis des Lagerfeuers vor der Werft traten.
„Araua, von Hutten – was führt euch denn noch hierher?“ fragte er und stand gleichzeitig auf. Mit seinem feinen Gespür für Menschen hatte er an den Gesichtern der beiden sofort erkannt, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.
Von Hutten verlor keine Zeit. Er trat in den Lichtkreis des Feuers, und seine hellblonden Haare, die einen seltsamen Kontrast zu seiner indianisch-braunen Gesichtsfarbe bildeten, schienen kleine Blitze auf die Männer zu schleudern, sobald sie den Schein der lodernden und zuckenden Flammen reflektierten.
„Im Südwesten unserer Insel braut sich ein schweres Wetter zusammen. Aber es ist kein Hurrikan und auch kein gewöhnlicher Gewittersturm. Es ist irgend etwas anderes, ich habe dergleichen, solange ich in der Karibik lebe, noch nicht gesehen. Die Wolken haben eine schwefliggelbe Farbe, die sich aber mehr und mehr mit einem düsteren Violett vermischt. Außerdem quirlen die riesigen Wolkentürme, die sich schneller und schneller über die Kimm emporschieben und den Himmel schon zum großen Teil bedecken, wie in einem Wirbelsturm durcheinander. Nein – ich habe so etwas noch nie gesehen!“
Ramsgates Männer waren ebenfalls aufgesprungen. Zwar lebten sie erst seit kurzer Zeit in der Karibik, aber was es bedeutete, wenn sich so ein schweres Wetter zusammenbraute, das wußten sie.
Der alte Ramsgate ergriff auch sofort die Initiative.
„Los, Männer, wir müssen die ‚Wappen von Kolberg‘ sichern. Schafft starke Trossen herbei, holt die Galeone an die Werft heran und vertäut sie dort so fest, daß sie kein Sturm loszureißen vermag!“
Die Männer ließen ihre Humpen Humpen sein und rannten sofort zur Helling hinüber. Der alte Ramsgate, der ihnen folgen wollte, wurde jedoch von Araua und von Hutten zurückgehalten.
„Die ‚Mocha II.‘ befindet sich wahrscheinlich genau dort, wo das Wetter in diesem Moment schon tobt. Was ist mit dem Schiff, Hesekiel? Das Urteil, das du Arkana abgegeben hast, war nicht sonderlich gut.“
Ramsgate warf der Tochter Arkanas einen raschen Blick zu, und er sah, daß sie ihn aus großen, schwarzen Augen anstarrte, in denen in diesem Moment die Angst der Tochter um die Mutter flackerte.
Araua war oft genug mit dem Wikinger oder mit Siri-Tong auf See gewesen, um die Gefahren eines schweren Sturmes richtig einschätzen zu können. Besonders dann, wenn ein Schiff wie die „Mocha II.“ in einen solchen Sturm geriet.
Hesekiel Ramsgate fuhr sich mit der Hand über die hohe Stirn.
„Es hat keinen Zweck, euch etwas vorzumachen. Die Galeone Arkanas ist alt. Die Verbände des Rumpfes sind nicht mehr die besten, auch die Beplankung weist schwache Stellen auf. Es hatte keinen Sinn, das alles zu reparieren, darum schlug ich einen Neubau vor. Meine Männer und ich haben getan, was wir konnten. Ich kann für Arkana nur hoffen, daß sie das Wetter beizeiten erkannt und einen Nothafen angelaufen hat. Aber vielleicht ist sie ja auch gar nicht so weit ins offene Meer hinausgesegelt …“
Er spürte den brennenden Blick Arauas, und er sah das Araukanermädchen an. Wie immer war sie fast nackt. Sie trug lediglich einen knappen Lendenschurz – so wie alle Schlangenkriegerinnen auf der Insel.
„Du hättest sie mit diesem Schiff nicht segeln lassen dürfen, Hesekiel“, sagte sie dumpf. „Ich verstehe das nicht, du bist doch sonst kein Mann, der …“
Ramsgate trat dicht an Araua heran, dann legte er ihr seine Rechte schwer auf die Schultern.
„Ich hätte deine Mutter auch nicht segeln lassen, Araua“, erwiderte er. „Aber sie sagte, der Schlangengott habe ihr aufgetragen, mit diesem Schiff noch eine Fahrt zu unternehmen. Arkana bat mich, darüber Stillschweigen zu bewahren. Und das habe ich bis zur Stunde getan, so daß alle denken mußten, es handele sich um eine ganz normale Erprobungsfahrt. Nur habt ihr alle eines übersehen: Wäre das so gewesen, dann hätte ich mich an Bord der ‚Mocha II.‘ befunden. Doch meinen diesbezüglichen Wunsch lehnte Arkana freundlich, aber bestimmt ab. Das ist alles, was ich dir dazu sagen kann.“
Araua sah den alten Ramsgate überrascht an. Dann wechselte sie jedoch mit Karl von Hutten rasch ein paar Worte in einer Sprache, die Ramsgate nicht verstand. Anschließend sah sie den Schiffbaumeister an.
„Verzeih“, sagte sie, „ich habe dir Unrecht getan. Ich schäme mich, denn ich hätte es besser wissen müssen …“
Araua drehte sich um und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.
„Was ist mit ihr, wo ist sie hin?“ fragte Ramsgate Karl von Hutten entgeistert, der ihr ebenfalls nachblickte.
„Araua will in den Schlangentempel, um den Schlangengott zu befragen“, antwortete