Ein zentrales Thema in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 ist die Aufarbeitung und Deutung der Vergangenheit. Sie umfasst Beispiele erfolgreicher Sinnsuche ebenso wie Fälle katastrophalen Scheiterns und spiegelt in diesen unterschiedlichen, oft unvereinbaren Auslegungen unmittelbarer Erlebnisse und Erinnerungsdiskurse die Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Literarische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit finden sich sowohl in novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike als auch in künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die repräsentativen Texte verdeutlichen eine Grundkonzeption, in der Erleben, Erinnern, Deuten und Gestalten der Vergangenheit den Gesichtskreis bestimmen.
Die AutorInnen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur erlebten zahlreiche politische und gesellschaftliche Umbrüche: die Nachkriegszeit, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, das Ende des Kalten Kriegs, zuletzt die Neuen Medien und die Digitalisierung. Der Verlust sinnstiftender Ideale und festgefügter Weltbilder prägen ihre Werke, die das Unbestimmte, Unübersichtliche literarisch zu erfassen suchen. Brüche und Orientierungslosigkeit bestimmen häufig auch Stil und Struktur der labyrinthischen Erzählschichten, die mit Zitaten, künstlerischer Selbstreflexion oder theoretischen Überlegungen angereichert sind. Anhand zentraler Themen wie Selbstverwirklichung, Liebesfähigkeit und Erkenntnis verhandeln die Texte das Bemühen ihrer Figuren, sich selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten, und eröffnen dem Lesepublikum Perspektiven für die eigene Sinnsuche in wechselvollen Zeiten.