Griselda Pollock bietet mit ihrer Betrachtung einer Auswahl von Arbeiten Charlotte Salomons eine radikal neue, nicht-autobiografische Lesart des Werkes einer Künstlerin, die als Jüdin 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Bereits 1940 war sie im französischen Konzentrationslager Gurs interniert worden, eine Erfahrung, nach der sie begann, Gouachen und Pauspapiere als Theater der Erinnerung anzufertigen. In nur sechs Monaten, zwischen 1941 und 1942, schuf sie einen umfangreichen narrativen Zyklus, der 1.325 Bilder und Texte sowie musikalische Angaben für den Gesangsvortrag umfasst, die sie als abgeschlossenes Gesamtwerk mit dem provokativen Titel Leben? oder Theater? in einem Karton bei einem Arzt in Nizza deponierte. Die einzelnen Blätter eröffnen intime Einblicke in die Gedankenwelt einer Namenlosen, deren Status als Künstlerin einzig auf der Deportationsliste nach Auschwitz verzeichnet ist und die erst mit großer Verspätung zu einem Namen als Kunstschaffende und damit zu angemessener Anerkennung kam. Griselda Pollock (*1949) ist Professorin für Social and Critical Histories of Art sowie Direktorin des Centre for Cultural Analysis, Theory and History an der Universität von Leeds. Sprache: Deutsch/Englisch