übermorgen

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    Wir

    Judith Kohlenberger

    Wir. Wie leicht uns dieses Wort über die Lippen kommt. Wir sind ein Paar, wir sind eine Familie, wir sind Freunde, wir sind eine Gemeinschaft, wir sind eine Nation. Wir sind nicht die Anderen. Oder? Judith Kohlenberger sieht genau hin: Wer ist das Wir in welchem Kontext? Welches Wir wählen wir selbst, welches wird uns zugeschrieben durch Herkunft, Beruf, Status? Wann wird das Wir zu einem Werkzeug der Ausgrenzung? Und wie beschreiten wir den Weg hin zu einem inklusiveren Wir? Dieser klarsichtige Essay räumt auf mit der Annahme, dass das von der Politik vielbeschworene und instrumentalisierte Wir selbstverständlich und festgeschrieben ist. Es ist vielmehr flüchtig, schwer fassbar, wandelbar – und ein ständiger Streit, den es auszuhalten gilt. Judith Kohlenberger plädiert in klaren Worten und mit Feingefühl für ein starkes, wagemutiges Wir, das Wachstumsschmerzen nicht scheut, das Unterschiede als Chance auf Weiterentwicklung und echte Teilhabe begreift.

    Pathos

    Solmaz Khorsand

    Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt – und wollen das auch mit allen teilen. Pathos bedeutet Macht. Wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen die Dinge erst ins Rollen. Dann kann Pathos Veränderung bedeuten. Gleichzeitig spiegelt sein Einsatz auch die herrschenden Machtverhältnisse wider. Scharf und pointiert seziert Solmaz Khorsand die einzelnen Tonlagen des uns stets umgebenden Pathoskonzerts. Sie misst die Lautstärke der Wortführer und hört bei den leisen Äußerungen der Ausgeschlossenen genau hin. Sie spürt, wessen aufgeregtes Geheul Gewicht hat und wem man rät, doch bitte nicht so pathetisch zu sein. Sie zeigt den fein balancierten Kipppunkt, an dem sich entscheidet, ob Pathos zu Achtsamkeit führt oder zu Radikalisierung. Und nicht zuletzt tritt sie ein für ein Innehalten, ein Dämpfen unseres eigenen Lärms und einen realistischen Blick auf uns selbst, der dazu ermutigt, im richtigen Moment einfach mal den Mund zu halten.

    Angst

    Petra Ramsauer

    "Haben Sie denn nie Angst?" – Diese Frage wurde Petra Ramsauer bislang am häufigsten in ihrem Leben gestellt. Die Reporterin berichtet seit über zwanzig Jahren aus Krisen- und Kriegsgebieten. Nun recherchiert sie im Land der Angst: Wovor fürchten wir uns zu Recht und zu Unrecht? Warum nehmen Angststörungen gerade in wohlbehüteten Staaten so zu? Wie verändert die Corona-Epidemie die Fieberkurve der Angst? Petra Ramsauer gibt Einblicke in ihre sehr persönliche Auseinandersetzung mit Angst: als jugendliche Tumorpatientin und später als Journalistin, die Luftkriege erlebte, ins Visier von Scharfschützen geriet und oft mit dem Risiko arbeitet, jederzeit entführt werden zu können. Sie schildert auch, wie dieses überlebenswichtige Gefühl eiskalt als Waffe eingesetzt werden kann: von Terroristen und als Taktik im Krieg. Natürlich hat Petra Ramsauer Angst, aber sie hat Wege gefunden, sie auszuhalten. Ihre Erfahrungen als Krisenreporterin führen deshalb auf die Spur, wie sich in jedem Leben die richtige Balance von so wenig Angst wie nötig und so viel Mut wie möglich einstellen kann.

    Heimat

    Erhard Busek

    Sehnsuchtsort, Gefühl der Zugehörigkeit, oft überhöht, emotional besetzt, immer wieder ideologisch missbraucht und Gegenstand philosophischer oder literarischer Betrachtungen: Heimat. Sicher ist: Die eine «Heimat» gibt es nicht. Die Realität eines Erhard Busek ist eine völlig andere als die eines Muamer Bećirović. Busek, in Österreich geboren, und Bećirović, Sohn bosnischer Flüchtlinge, erleben das Land, in dem sie leben, aus völlig unterschiedlichen Perspektiven. In ihren scharf beobachtenden Essays prallen zwei Welten aufeinander, die doch bestrebt sind, Verbindendes zu finden. Was ist einem vertraut, was nicht? Ist Heimat ein Ort, eine Idee, ein Gefühl, eine Erzählung? Gewährt politisches Denken geistiges Obdach? Wer hat die Macht, Heimat für sich und für andere zu definieren? Ist Österreich beiden eine Heimat – und wenn ja, in welcher Form? Die ungleichen Freunde Busek und Bećirović spüren ihren Ent- und Verwurzelungen nach, reflektieren ihr eigenes Hineinwachsen in die Welt und vermessen Wort für Wort den Raum, der Heimat vielleicht sein könnte.

    Offenheit

    Jaqueline Scheiber

    Eine junge Frau verfasst einen Tag, nachdem ihr Partner plötzlich verstirbt, einen Instagram-Post darüber. Sie präsentiert ihren von Dehnungsstreifen übersäten Bauch dreißigtausend Menschen. Sie macht ihre psychische Erkrankung öffentlich, auch auf die Gefahr hin, stigmatisiert zu werden. Jaqueline Scheiber öffnet jeden Tag ein virtuelles Fenster zu ihrer Welt. Als «minusgold» berührt sie auf Instagram mit sehr persönlichen, leuchtenden, manchmal unbequemen Posts. So entsteht ein Raum für Erfahrungen anderer, die sich mit ihren eigenen zu einem dichten Netz an Anteilnahme und Unterstützung verweben. Doch was für die einen mutig ist, stößt bei anderen auf Ablehnung. Jaqueline Scheiber reflektiert präzise, warum sie es für unerlässlich hält, die eigene Stimme zu erheben und gehört zu werden. Sie beschreibt den Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und tritt den Beweis an, dass «radical softness as a weapon» (Lora Mathis) die Basis ist für ehrlichen Austausch, empathische Auseinandersetzung und echte Veränderung.