Punctum

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    Der Plan

    Justus Bender

    Hanau, Halle, Kassel, Christchurch oder Utøya – wahnhafte Absichten und rationales Vorgehen schließen sich nicht aus. Justus Benders Essay gewährt einen erschreckenden Einblick in die Strategien des modernen Rechtsterrorismus.
    Der einhellige Tenor von Berichterstattung und Politik lautet, der Rechtsterrorismus sei irrational und geistlos. Oft wird angenommen, es handele sich um Taten von unzurechnungsfähigen Einzeltätern. Diesem Fehlschluss, aus der Wahnhaftigkeit der Motive auf die Wahnhaftigkeit der Tat zu schließen, stellt sich dieses Buch vehement entgegen. Angemessen auf die rechtsterroristische Gewalt der Gegenwart kann die offene Gesellschaft nur reagieren, wenn sie sich der Rationalität und des Kalküls ihrer Gegner bewusst ist. Der Plan ist ein unentbehrliches Vademecum, in dem sechs einflussreiche, in der rechtsextremen Szene weithin zirkulierende Handreichungen zu einer rechtsextremen Praxis nach der Niederlage des Nationalsozialismus vorgestellt werden – vom «Werwolf» der letzten Kriegstage der Jahre 1944/45 über die fiktiven Turner-Tagebücher 1978 bis zum «Blücher-Plan» aus dem Jahr 2000, auf den auch der NSU in seinem Bekennerschreiben zu verweisen scheint. In der Rekonstruktion ihrer strategischen Erwägungen und wechselseitigen Bezugnahmen werden die Konturen der führerlosen und nahezu beliebige Opfer treffenden, aber keineswegs absichtslosen Gewalten sichtbar, die den Rechtsterrorismus der Gegenwart als Plan bestimmen.

    Klima|x

    Andreas Malm

    Nach der Krise ist vor der Krise ist in der Krise. In seinem hellsichtigen Essay, geschrieben in Berlin in den Wochen des Lockdown, der nicht nur Deutschland im Frühjahr 2020 zu einem abrupten Stillstand zwang, wirft der Klimaaktivist und Humanökologe Andreas Malm die entscheidenden Fragen auf: Wie war es möglich, dass die Staaten des globalen Nordens angesichts der COVID-19-Pandemie so effektiv und entschlossen handelten – und im Hinblick auf die Erderwärmung immer noch nichts tun? Woher kommt die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Normalzustand, der längst schon keiner mehr ist? Und welche Schlüsse lassen sich aus der Kriegsrhetorik, in der über die Pandemie gesprochen wurde, für den Kampf gegen den eigentlichen Krankheitserreger ziehen? Jenem Krankheitserreger, der in Corona nur eine seiner Formen fand, die zeigt: Es gilt, der Zeit der Untätigkeit in Anbetracht des globalen Feindes namens Klimakrise ein entschlossenes Ende zu bereiten.

    Hamburg. Sex City

    Joachim Bessing

    Hamburg, das scheint aus Berliner Perspektive heute nur noch schwer vorstellbar, war zur Erzählzeit, den frühen Neunzigerjahren, das popkulturelle Zentrum Deutschlands. Hier saßen die wichtigen Verlage und Werbeagenturen, die es damals tatsächlich noch gab. Vor allem aber die Musikindustrie – und unterhalb dieser Corporate Culture war in St. Pauli aus dem Erbe von Hafenstraße, Punk und Roter Flora eine die deutsche Musiklandschaft prägende Subkultur entstanden: die sogenannte Hamburger Schule. Radikal feministische Diskurse, Gender Trouble, Riot Girls und die ständige Sorge, wie man von Hamburg aus mit kulturellen Mitteln dem wütenden Mob in der ehemaligen DDR, zwei Jahre nach dem Mauerfall, begegnen könnte; also all das, worum es in der Berliner Republik 27 Jahre später noch immer geht. Im Hamburg der frühen Neunziger wurde all dies bereits durchlebt – und ausgiebig diskutiert. Die Bilder, die Christian Werner in einem Visual Essay beiträgt, zeigen beide Seiten dieser Stadt: das bürgerlich-saturierte der libertären Hanse und das harte Pflaster des Milieus; das ist der Humus, auf dem einst, es ist noch gar nicht lange her, eine der wichtigsten kulturellen Strömungen des 20. Jahrhunderts entstanden ist.

    Julies Leben

    Emmanuel Carrère

    An einem kalten Februarmorgen 1993 sieht die Fotojournalistin Darcy Padilla eine Achtzehnjährige mit einem Neugeborenen im Arm in der Lobby des Ambassador-Hotels in San Francisco stehen – barfuß. Sie bittet sie, ein Foto von ihr machen zu dürfen. Sie wird Julie die nächsten achtzehn Jahre bis zu deren Aids-Tod im Jahr 2010 als Chronistin ihres Lebens und Freundin fotografisch begleiten. Als Emmanuel Carrère die Fotos zum ersten Mal sieht, beschließt er, sich auf die Spuren der beiden Frauen zu begeben, und reist in die USA. Als Meister der dokumentarischen Erzählung beschreibt er Julies Lebensweg und die Freundschaft der beiden ungleichen Frauen: Abhängigkeiten, familiäre Katastrophen, Beziehungen, Geburten und Abschiede, viele tragische und wenige heitere Momente in einem Milieu, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Denn Julie ist ein Fall von Tausenden: Padillas Bilder und Carrères Text werfen die Frage nach der sozialen Bedingtheit eines Schicksals auf, nach dem Gebot der Anteilnahme angesichts von Lebenswegen, die aussichtslos erscheinen.