Wegen Wersai. Dagmar Schifferli

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Название Wegen Wersai
Автор произведения Dagmar Schifferli
Жанр Языкознание
Серия rüffer&rub literatur
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906304441



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sonst hätte ich es mal Frau Simonis vorgesungen.

      Mit einem entschlossenen »So – das hätten wir vorerst« legt sie das Strickzeug auf den Salontisch und nimmt die freie Nadel, um sie zwischen Nacken und Blusenkragen zu schieben. »Ach, wie gut das tut!«

      WAS WIR EINMAL werden möchten, hatte uns die Lehrerin letzte Woche gefragt.

      »Springreiterin, natürlich!«, rief Monika als Erste. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Pferd. Wahrscheinlich bekommt sie keines, obwohl sie mit ihrer Oma oft an Pferderennen geht. Die Oma wettet gerne und hat schon mehr als einmal gewonnen. Leider noch nie ein Pferd, immer nur Geld.

      Weil Klaras Mutter Kioskverkäuferin ist, will auch Klara Kioskverkäuferin werden.

      »Erika?« – »Krankenschwester.«

      »Heinz?« – »Lastwagenchauffeur.«

      »Werner?« – »Pilot. Wie mein Vater. Bei der Swissair.«

      »Lorenzo – was ist dein Berufswunsch?«

      »Weiß nicht. Ich möchte mit Mama und Papa zurück zu meiner Nonna.«

      »Gefällt es dir denn nicht bei uns?«

      »Nein«, sagte Lorenzo leise. »Immer werde ich geplagt. Ich will endlich zu meiner Nonna.«

      Wie ich. Ich werde auch immer geplagt, von Tantelotte, und möchte viel lieber bei Mama sein.

      »Wirklich?«, fragte Frau Simonis. »Das ist mir neu. Möchtest du nach dem Unterricht noch einen Moment bleiben? Dann könntest du es mir genauer sagen. – Und du?«, hatte sie schließlich auch mich gefragt. Mir wurde brennend heiß im Gesicht. Mein Berufswunsch ist aufgeblasen, findet mein Vater. Vielleicht findet das Frau Simonis auch.

      »Na, Kathi, sag schon.«

      »Ich –«

      »Nun?«

      »Ärztin.«

      Endlich hatte ich es herausgebracht.

      »Das ist ein schöner Beruf. Und ein wichtiger dazu.«

      Meine Angst war weg. »Eigentlich Ärztin für Erwachsene, weil meine Mutter so krank ist. Kinderärztin gefällt mir trotzdem besser. Da sieht man, wenn es einem Kind schlecht geht, und kann ihm helfen.«

      Wie wird man das überhaupt? Hatte ich mir noch nie überlegt. Ich streckte auf, schnippte sogar mit den Fingern, was Frau Simonis gar nicht mag.

      »Kathi?«

      »Frau Simonis, ich möchte Sie etwas fragen.«

      »Nur zu. Hat es mit deinem Berufswunsch zu tun?«

      Ich nickte. Mein Schnippen hatte sie zum Glück überhört.

      »Wissen Sie, wie man das wird?«

      »Du meinst Kinderärztin?«

      »Ja.«

      »Zuerst kommt die Matura, anschließend studiert man an der Universität Medizin. Das ist kein Problem für dich, du bist eine sehr gute und aufmerksame Schülerin.«

      »Trotzdem, Frau Simonis.«

      »Wieso trotzdem?«

      »Tantelotte wäre dagegen, und mein Vater auch. Sie sind gegen die Studierten.«

      »Ach, das gibt sich schon. Später musst du niemanden mehr fragen. Mir jedenfalls gefällt dein Berufswunsch. Und deiner Mutter vielleicht ja auch?«

      »Ich weiß nicht. Am liebsten möchte sie mit Ärzten gar nichts zu tun haben.«

      Seither spielen wir in der Pause oft Unfall. Heinz ist mit seinem Lastwagen voll in eine Mauer gekracht. Er blutet überall. Erika und ich wickeln einen dicken Verband um seinen Kopf. Dazu muss ich ihn fest anpacken, ziemlich fest sogar, wie ich es von Tantelotte kenne, wenn ich mit aufgeschürften Knien und zerschlissener Hose nach Hause komme.

      Oder Monika stürzt vom Pferd, braucht unbedingt eine Spritze in das Bein und einen Schleckstängel, den Klara ihr zum Trost schenkt. Also, sie tut nur so, weil ihre Mutter ihr nie welche nach Hause bringt.

      Lehrerin will niemand werden. Das enttäuscht Frau Simonis. Ich glaube, sie meint es ernst. Bei den Erwachsenen bin ich mir meistens unsicher, ob sie etwas ernst meinen oder nicht. Auch bei Frau Simonis. Ich gehe ja erst seit letztem Jahr zu ihr in die Schule. In der ersten bis dritten Klasse hatten wir einen Lehrer mit einer Donnerwetterstimme und schweren schwarzen Lederschuhen. Wenn er ein Kind in die dunkle Höhle unter seinem Pult sperrte und dann eins um andere Mal trat, durfte sich niemand etwas anmerken lassen, schon gar nicht zu Hause davon erzählen. Weil man sonst selbst drankommt, sagte der Lehrer. Eines Tages war er plötzlich weg und ein anderer Lehrer da. Vielleicht hat eine Kinderärztin bei einem Kind blaue Flecken entdeckt, und es plauderte alles aus. Was ich niemals tun würde.

      NACH BRAUNWALD. Diesmal geht’s nach Braunwald. Sogar mit Tommy. Und schon wieder mit Tantelotte. Einen Ausflug machen wir immer am letzten Wochenende im Monat, wenn ich bei Mama und Papa übernachten darf. Viel lieber wäre mir das erste, weil es sich anhört, als käme es rascher. Wir fahren schon am Samstag weg, damit Papa am Sonntag das Autorennen am Fernsehen schauen kann.

      Papa schimpft, weil wir erst nach langem Herumkurven und ziemlich weit von der Talstation entfernt einen freien Parkplatz finden.

      »An diesem herrlichen Tag wollen halt alle hinauf in den Bergfrühling«, beschwichtigt Mama. »Die Blumenpracht genießen.« Sie will nicht, dass wir uns streiten. Streit in der Familie bringt sie um.

      Die ersten Male auf der Standseilbahn hatte Tantelotte fürchterlich gezittert. Sie musste die Augen schließen, damit sie die steilen Abhänge nicht sah. So hohe Berge gibt es dort nicht, wo sie herkommt. Und darum auch keine Standseilbahnen.

      Wenn man oben aussteigt, ist es überall noch steiler. Mama kommt deshalb nur die wenigen Schritte bis zum Hotel Alpenblick mit. Dort hört sie dem Nachmittagskonzert zu und trinkt einen Tee. Manchmal gönnt – gönnt? – sie sich auch ein Stück Kuchen. Dass sie zur Musik nicht mehr tanzen kann, macht sie traurig.

      Wir andern schultern die Rucksäcke. Mein Vater nennt das so, schultern. Ohne uns nochmals umzuschauen, marschieren wir los. Auch das nennt mein Vater so. Vorwärts. Aufwärts.

      An manchen Häusern steht Fremdenzimmer.

      »Für wen sind eigentlich diese Zimmer, Papa?«

      Das wollte ich schon lange mal wissen, weil Lorenzo Fremdarbeiter sagt, wenn er von seinen beiden Onkeln redet, die auf einer Baustelle arbeiten, irgendwo hoch oben in den Bergen.

      »Für die Fremden, es steht doch auf der Tafel.«

      »Also für Leute aus anderen Ländern als der Schweiz?«

      »Nein, nicht nur. Jeder, der nicht hier geboren wurde, ist in diesem Dorf ein Fremder.«

      »Wir also auch, Papa?«

      »In Braunwald würde ich keine Ferien machen wollen.«

      Ich spüre, dass Papa dazu nichts mehr sagen will. Wahrscheinlich würde er mir auch nicht erklären wollen, weshalb Tantelotte manchmal Braunau sagt, obwohl sie Braunwald meint.

      Nach einer Weile bückt sich Tantelotte nach Bucheckern. Mit Zeigefinger und Daumen klaubt sie die Nüsse aus den struppigen Fruchtbechern.

      »Massenweise mussten wir die sammeln«, sagt sie keuchend, »als Kaffeeersatz oder für Speiseöl.«

      »Daran sind wir doch nicht schuld, oder, Papa?«

      Er presst seinen gestreckten Zeigefinger auf die Lippen.

      Diesmal gehen wir nur bis zum Uhu. Papa ist es ein Rätsel, wieso das Restaurant so heißt.

      »Vielleicht, weil nachts ein Uhu auf der Tanne hockt und ins Tal hinausheult?«, überlege ich.

      »Wenn man dem Uhu mit UHU den Schnabel zuklebt, kann er das nicht mehr«, blödelt