Wegen Wersai. Dagmar Schifferli

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Название Wegen Wersai
Автор произведения Dagmar Schifferli
Жанр Языкознание
Серия rüffer&rub literatur
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906304441



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Unterhosen hier vorne eine Öffnung?«

      »Es gibt eben solche und solche.«

      »Vielleicht weiß es Mama?«

      »Nein«, ruft Tantelotte vom anderen Ende der Wäscheleine herüber, und es hört sich an, als hätte sie gerade etwas erschreckt. »Das lässt du lieber. Deine Mutter ist schwer krank und sollte nicht mit solch belanglosen Dingen belästigt werden.«

      Multiplesklerose, obwohl es mit Rose überhaupt nichts zu tun hat. Multiplesklerose, schon längst kann ich es ohne zu stottern sagen. Als Einzige in meiner Klasse, wir haben das mal ausprobiert.

      Ich werde Mama trotzdem fragen. Das kann mir Tantelotte nicht verbieten.

      Gerade als das letzte Frottétuch an der Leine hängt, ertönt von überall her lautes Gejaule von an- und abschwellenden Tönen. Wenn wir das hören, hat die Lehrerin heute früh gesagt, bräuchten wir keine Angst zu haben. Es sei nur ein Probealarm, kein Krieg.

      Ich schaue mich um, will herausfinden, woher genau der Sirenenlärm kommt, und sehe noch knapp, wie Tantelotte eilig im Haus verschwindet, ihre Hände auf die Ohren gepresst.

      »Nein!«, schreit sie, »nein, bitte nicht!«

      Ich renne ihr nach. Die Treppen hoch, hinein in die Wohnung.

      »Nein!«, schreit sie wieder, sinkt auf das Sofa und schlottert, als wäre es mitten im Winter. Aber sie weint nicht. Trotzdem habe ich ein bisschen Mitleid mit ihr.

      Heute Abend kommt Papa zu uns. Mama muss für eine Untersuchung ins Krankenhaus. Wenn Mama weg ist, kann ich geradeso gut zu euch kommen, um wieder einmal nachzuschauen, ob mit Tante Lotte und dir alles in Ordnung ist, sagte Papa am Telefon. Zuerst habe ich mich gefreut, dann fiel mir ein, dass sie mich bestimmt verpetzt wegen der Würmer, die ich auch am Abend nicht gegessen habe. Im Putzschrank steht der Teppichklopfer. Wenn Papa mir die Unterhose hinunterzieht und den nackten Hintern verdrischt, kneife ich mir so fest in den Arm, dass ich von beidem zusammen fast ohnmächtig werde. Irgendwann tut es dann nicht mehr weh.

      Papa will über Nacht bleiben, damit er sicher sein kann, dass ich auch wirklich gut durchschlafe. Nicht wie früher, als ich noch bei ihnen wohnte und mitten in der Nacht aufstehen musste, um zu pieseln. Und Angst hatte. Papa weiß das nicht. Immer habe ich Angst, dass sie Mama abholen und sie auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt.

      Geschirrgeklapper und Kaffeegeruch aus der Küche. Gestern Nacht habe ich meine Zimmertür einen Spaltbreit offen gelassen, weil ich besser einschlafen kann, wenn andere im Wohnzimmer noch miteinander reden. Nein, es war nur ein Traum, Mama liegt zusammengekrümmt an einem Flussufer. Nackte Füße, zerschlissener Pullover. Ihr Gesicht grau und aufgedunsen. Meine Nase ist zu, auf dem Kopfkissen spüre ich eine feuchte Stelle.

      Papa ist immer noch hier. Ich höre, wie er sich bei Tantelotte für alles bedankt. Der Schlüsselbund schlägt gegen die Wohnungstür und klingt noch ein wenig nach.

      Beim Frühstück ist Tantelotte lieb zu mir. Sie rührt so lange in meiner heißen Schokoladenmilch, bis sie nur noch lauwarm ist und ich sie gut trinken kann. Sie streicht mir ein Butterbrot mit einer dicken Schicht Erdbeermarmelade. Sogar mein Schatz sagt sie zu mir. An anderen Tagen muss ich mich noch vor dem Frühstück vor sie hinstellen, damit sie meine Fingernägel kontrollieren kann, den Pullover, den Rock. Zusammen gehen wir in mein Zimmer. Wenn ich mein Bett schön gemacht habe, die Decke glatt gestrichen ist und im Schrank alle Wäschestücke haargenau aufeinanderliegen, erhalte ich einen grünen Punkt in mein Ordnungsheft. Unordnung macht sie wütend, so wütend, dass sie mit dem Herausreißen der Wäsche aus dem Schrank ein noch viel größeres Durcheinander anrichtet und immer noch lauter schimpft. An solch einem Morgen esse ich nichts und renne sofort in die Schule. Wäre die Schule bloß weit weg in Afrika. Und Tantelotte in Gelsenkirchen.

      Ab und zu schenkt sie mir einen Zweifränkler. Das Geld ist für die Spardose, sagt sie. Ich nicke und denke an den Kiosk, wo ich mir von dem Geld die Haselnussschokolade kaufen werde.

      Ich musste lange betteln, bis mir Tantelotte den Schlüssel zu meiner Spardose überließ. Es ist schließlich mein Geld, meine Spardose, und dazu gehört auch der Schlüssel. Ich glaube, sie schüttelt die Dose heimlich, wenn ich in der Schule bin. Jedenfalls habe ich schon bemerkt, dass sie verschoben auf meinem Bücherregal stand, obwohl ich die richtige Stelle mit einem Bleistiftkringel markiert hatte. Wenn man genau hinschaut, sieht man im Dosenschlitz die ineinandergreifenden Metallzacken. Die Zacken gehen nur dann auseinander, wenn von oben ein Geldstück hineingeschoben wird. Was drin ist, bleibt drin. Wenn man keinen Schlüssel hat.

      Zwei Tafeln Haselnussschokolade. Das Geld, das dann noch übrig bleibt, werfe ich wirklich in die Spardose. Ich spare so lange, bis ich groß bin und eine eigene Wohnung habe. Ohne einen einzigen Teppich. Und dann werde ich Kinderärztin.

      TANTELOTTE STRICKT ALLES in Blau und Weiß.

      »Züricher Farben, blau-weiß, wie die Trikots von Schalke 04.«

      »Es heißt Zürcher Farben, ohne i«, sage ich.

      »Dann halt. Ewig her, dass die Knappen Deutscher Meister geworden sind. Die erfolgreichen Dreißigerund Vierzigerjahre sind leider, leider vorbei. Momentan kämpfen sie sogar um den Ligaerhalt. – Zwei links zusammenstricken – zwei Maschen rechts. Der Langner kann einem schon leidtun. Eine Masche abheben. – Fußball ist halt in der Schweiz nicht so wichtig wie bei uns. Mein Papi hat sogar mich als Mädchen manchmal in die Glückauf-Kampfbahn mitgenommen.«

      Für Babys blau-weiße Mützchen, Strampler und winzige Söckchen, für größere Kinder Jacken und Pullis, auf die Tantelotte meistens noch ein schwarzes Hündchen stickt, das aussieht wie Struppi. Die Mützchen hat sie immer schnell fertig, Strampler sind viel komplizierter. Die über Monate anwachsenden Strickberge türmen sich auf der Kommode im Wohnzimmer. Am Weihnachtsbasar der Pfarrei verkauft sie alles. Schwupps geht alles weg. Das Geld spendet sie für die armen Negerli in Afrika. Mützchen und Strampler könne man dort sowieso nicht brauchen, sagt Monika, deren Mutter auch haufenweise strickt.

      »Ein Jäckchen«, antwortet Tantelotte auf meine Frage. »Vorder- und Rückenteil habe ich schon.«

      »Und woran bist du jetzt?«

      »Am Ärmel. – Da, lies nur, wer weiß, ob ich noch hier bin, wenn du selbst einmal ein Baby hast. Oder sogar mehrere Kinder. Was ich dir wünschen würde.«

      Sie hält mir die zerfledderte Strickanleitung hin: Für den Ärmel werden 40 Maschen angeschlagen. Auch er beginnt wieder mit dem Blendenmuster und geht dann mit dem Grundmuster weiter. Dabei wird zunächst siebenmal in jeder 3. Reihe jeweils eine Masche zugenommen. Danach kommt 15-mal in jeder 2. Reihe eine neue Masche dazu. Am Ende besteht der Ärmel somit aus 84 Maschen und wird mit einer Gesamthöhe von 16 cm abgekettet. Der zweite Ärmel wird genauso gearbeitet. –

      »Ich kapier gar nichts.«

      »Siehst du«, sagt Tantelotte genüsslich. »Eine Geheimsprache für dich, wie? Auch das wirst du noch lernen.«

      Ob ich das später wirklich einmal können möchte? Ich setze mich mit den Brüdern Löwenherz aufs Sofa und suche die Stelle, wo ich gestern vor dem Einschlafen aufgehört habe zu lesen.

      Da beginnt Tantelotte über ihrem Strickzeug zu summen. Plötzlich singt sie sogar leise, so leise, dass ich die Worte gerade noch verstehen kann.

       Blau und Weiß, wie lieb ich dich.

       Blau und Weiß, verlass mich nicht.

       Blau und Weiß ist ja der Himmel nur –

      Hab ich noch nie gehört. Etwa ein Lied über Zürich, wegen Blau und Weiß? Jetzt summt sie einige Takte, dann singt sie wieder leise:

       Tausend Feuer in der Nacht

       Haben uns das großes Glück gebracht

       Tausend Freunde, die zusammenstehn,

       zusammenstehn