Chimära mensura?. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Chimära mensura?
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082399



Скачать книгу

Grenze bewertete er als von bisherigen Untersuchungen völlig unbeeindruckte Spekulationen.38 Als nächsten Schritt bot „Schulte“ ihre „Forschungen“ der Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie zur Veröffentlichung an. Folgt man den Angaben der anonymen Satiregruppe „Christiane Schulte & Freund_innen“, nahm die von dem stellvertretenden Institutsdirektor Uwe Backes geleitete Redaktion der Hauszeitschrift des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) in Dresden den Beitragsvorschlag aber innerhalb „weniger Tage“ mit einer überschaubaren Anzahl von Änderungswünschen zur Publikation an.39

      Er sei ein „Riesenrhinozeros“, das jetzt an der Leine durch die Manege geführt werde, soll Backes gesagt haben, als er von einem Journalisten auf den liebevoll gefälschten Aufsatz angesprochen wurde, der über seinen Schreibtisch – den Text haben Kollegen und auch der Institutsdirektor ebenfalls gekannt40 – schließlich den Weg in die Hauszeitschrift gefunden hatte.41

      Dem war vorausgegangen, dass im Februar 2016 „Christiane Schulte“ in einem digitalen Bekennerschreiben den gesamten Vorgang offen legte.42 Unmittelbar darauf folgte Peters.43 Trotzdem zwei von acht Vorträgen auf einer Tagung satirische Fälschungen waren, versuchte in der Folge die HAS-Community stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen. Der Chimaira Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Chimaira AK), der das unmittelbare Opfer des Hoaxes geworden war, reagierte mit der trotzigen Behauptung, der Beitrag sei keinesfalls als eleganter Unsinn erkennbar gewesen, schließlich sei „[w]eiterhin […] bisher weder bewiesen noch widerlegt, dass Wachhunde aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht von KZ-Hunden abstammten“.44 Die Redaktion von „Totalitarimus und Demokratie“ verschickte eine Stellungnahme, in der sie sich für die Veröffentlichung entschuldigte. Der Redaktion habe „sich die Verfasserin u.a. mit einem ausführlichen Tagungsbericht der renommierten Internetplattform ‚H-Soz-Kult‘ empfohlen. […] [T]rotz eines intensiven Lektorats [sei] die Täuschungsabsicht nicht erkannt und die nötige wissenschaftliche Sorgfaltspflicht vernachlässigt“ worden. Das „liberale Grundverständnis der Zeitschrift [sei] missbraucht und für eine angebliche Wissenschaftskritik instrumentalisiert“ worden.45 Allerdings gingen der Verlag und das Institut ansonsten weniger souverän mit dem Hoax um. Der Beitrag wurde kommentarlos aus der eLibrary des Vandenhoeck & Ruprecht-Verlages gelöscht, das im Internet verfügbare Inhaltsverzeichnis sowohl auf der Seite des Verlages als auch auf der des HAIT stillschweigend um den Schäferhund-Text bereinigt. Im Jahresbericht des Instituts wird die Angelegenheit ebenfalls nicht benannt46, geschweige denn, dass eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem Hoax stattfindet.

      Der „deutsch-deutsche Schäferhund“ geisterte also seit dem Frühjahr 2016 durch Online-Medien und die deutsche Presse. Während die Wissenschaftsparodie von Alan Sokal vor 20 Jahren wie auch der jüngste Science-Hoax von Peter Boghossian zum „konzeptionellen Penis als sozialem Konstrukt“47 ausführliche Debatten nach sich zogen, hat der Hunde-Hoax, innerhalb der Geschichts- und Geisteswissenschaften bislang zu wenig Resonanz gefunden. Das ist erstaunlich, fordert die frei erfundene Studie Historiker*innen und andere Geisteswissenschaftler*innen doch gleich in mehrfacher Hinsicht heraus. Nach zahlreichen Gesprächen der Herausgeber mit Beteiligten und Interessierten gelangten wir zu der Ansicht, dass zu diesem Hoax noch lange nicht alles gesagt ist, dass er vielleicht nur einen Aspekt innerhalb eines übergreifenden Problemhorizontes abbildet und dass ihm eine virulente Bedeutung im Hinblick auf die gegenwärtige akademische Praxis zukommt: Auf dem Prüfstand stehen nicht nur wissenschaftlichen Qualitätsstandards und kritische Urteilskraft, sondern auch das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu ideologisierten Deutungen der Vergangenheit sowie die innerfachliche Debattenkultur. Die Herausgeber haben sich anlässlich des Hoaxes durch unzählige Seiten des jungen Forschungsfeldes gelesen. Sie haben viel gelernt, interessante Forschungsfragen und neue Perspektiven wahrgenommen, aber auch etliche mindestens halbgare Dinge gelesen und solche, die tatsächlich wie eine Wissenschaftsparodie wirken. Zudem beschlossen die Herausgeber, einen Workshop zu organisieren, der am 28. Oktober 2016 an der TU Berlin stattfand.48 Dazu mochte oder konnte keine/r der etwa zwei Dutzend angefragten HAS-Vertreter*innen erscheinen. Wenige versicherten glaubhaft, dass es tatsächlich terminlich nicht klappte, doch die meisten beantworteten nicht einmal unsere Anfrage.49 Dies verwundert insofern, als immer wieder herausgestellt wird, welch innovativen und für eine zeitgenössische Gesellschaft unverzichtbaren Leitideen die HAS repräsentierten. Wäre dem so, und sie hätten diese immense Innovations- und Anziehungskraft, stellt sich die Frage, warum niemand kam, um für seine wissenschaftlichen Positionen einzustehen und zu werben. Umso erfreulicher ist, dass Markus Kurth vom gehoaxten Chimaira AK sich bereit zeigte, einen Beitrag für dieses Buch beizusteuern. Zudem erhielten wir die freundliche Erlaubnis, nicht nur Interviews von „Christiane Schulte“ und dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, sondern auch von Aiyana Rosen, Helen Keller und dem genannten Markus Kurth vom Chimaira AK mit sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung abzudrucken.

      Wenn diese Publikation manchen Lesern also insgesamt etwas „einseitig“ vorkommen mag, so liegt das nicht in der Absicht der Herausgeber, sondern vor allem an dieser Konstellation. Natürlich hatten wir Organisatoren auch Forscher*innen aus zahlreichen anderen Disziplinen angesprochen und eingeladen: aus den Geschichtswissenschaften, Politologie, Literaturwissenschaft, Biologie, Ethnologie, Soziologie und Wissenschaftssoziologie, Metropolitan Studies und Philosophie. Denn schließlich wollten wir kein Tribunal inszenieren oder gar Häme zeigen, sondern den Raum für eine offene und kontroverse Debatte öffnen. Es trafen dann 40 Menschen jeglichen Geschlechts zusammen und diskutierten angeregt auf drei Panels – meist im Fishbowl-Format – auf einem interessanten Workshop, der von einer anregenden Podiumsdiskussion abgeschlossen wurde.

      Fokus und Aufhänger des Hoaxes sind die erwähnten HAS. Auch wenn jüngst der Versuch des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho, den Bereich Animal Studies an der Berliner Humboldt-Universität zu etablieren, zurückgewiesen wurde50, gibt es inzwischen zwei thematisch zugeschnittene Professuren in Deutschland und ein erstes Textbook für Lehrende und Studierende im UTB-Verlag.51 Die HAS, die zu einem Feld gehören, das sich mitunter selbst als „more-than-human social sciences“ bezeichnet52, scheinen sich – so der Eindruck der Herausgeber – zu etwas wie dem Katzencontent der jüngeren, postmodern und kulturalistisch erweiterten Geistes-, Gesellschafts- und Sozialwissenschaften zu entwickeln.53 Wer im World Wide Web unterwegs ist, kommt um „Cat Content“ kaum herum. Die LOLcats etwa gehören zu den verbreitetesten Internet-Memen– „millionenfach kopierte Fotos von Katzen, denen durch eingefügte Schrift menschliche Sätze mit einer eigenartigen Grammatik in den Mund gelegt werden.“54 Ähnliches – Menschen legen Tieren eine Botschaft in Maul, Schnauze oder Schnabel – scheint häufig auch für die HAS zu gelten. Auch eine eigene Sprache entwickelt sich im Mikrokosmos dieses akademischen Feldes, die aus „tierisch“ „tierlich“ werden, durchweg von „nichtmenschlichen Tieren“ hören lässt, mit Jacques Derrida von „an-humain“ oder „l‘animot“ spricht, letzteres ein Neologismus, gebildet aus l’animal (Tier) und le mot (Wort), oder von Prädomestizität, Domestizität und Postdomestizität (Richard Bulliet) oder „Naturecultures“ (Donna Haraway).

      „Das Internet ist eine Katze“, behauptet zwar der Schriftsteller Peter Glaser55, doch, so der subjektive Eindruck der Herausgeber sind Katzen in den HAS bislang ausgesprochen wenig vertreten56, Hunde hingegen das mit Abstand beliebteste Objekt der Aufmerksamkeit im Feld der jungen Disziplin57, wahrscheinlich dicht gefolgt von Pferden58. Die Herausgeber hatten den Workshop noch „Auf den Schäferhund gekommen“ genannt, sahen aber davon ab, das Buch mit demselben Titel zu versehen, stellte sich doch heraus, dass das Wortspiel nach der inflationären Verwendung in den HAS bereits ziemlich verschlissen ist.59 Wortspiele sind beliebt: So ist schon in Anlehnung an die Human Condition von einer „Canine Condition“ die Rede.60 Es gibt Plädoyers für eine „Hunde-Epistemologie“61 – etwas, das die Organisatoren bei der Planung der Tagung ebenfalls noch nicht wussten, als sie zum Scherz die „Schäferhund-Hermeneutik“ in einem Paneltitel unterbrachten. Entsprechend bestürzend war es, später zu lesen, dass die “canine epistemology” im Werk Virginia Woolfes “the dominant empirical epistemology of the period” unterbreche, “allowing readers to experience