einfach unverschämt zuversichtlich. Группа авторов

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Название einfach unverschämt zuversichtlich
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290177942



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alte – getanzt haben. Gesittet sei es zugegangen, aber im Saal habe eine fast greifbare Erotik geherrscht: «Es war so schön; ich habe weinen müssen.»

      Vielleicht fehlt mir im heutigen Spiritualitätsboom die Erotik, die Sprache der Liebe.

      Erschienen in FAMA 3/1999: «Erkundungen zu Spiritualität»

      Isabelle My Hanh Derungs

      Oft schon wurde ich gefragt, zu welcher Religion ich gehöre. Dann staunten die Fragenden darüber, dass ich so viel Zeit benötigte, um ihnen eine Antwort zu geben. Doch gerade das, was in uns und mit uns wohnt, scheint schwierig zu erfassen. Ich wusste oft nicht, wie ich den Leuten eine verständliche Antwort geben konnte. Mein Gott hat keine Nationalität, kennt keine Hautfarbe, gehört zu keiner Partei und lässt sich in keine Religion einordnen. Er ist weder christlich noch buddhistisch noch muslimisch. Er ist Gott. Genauer gesagt, er ist mein Gott. Nicht weil er mir allein gehört, sondern weil ich nicht weiss, ob die Fragenden diesen Gott meinen.

      Da mein Gott keine Erklärung braucht, aber ich und die Menschen, die mich fragten, antwortete ich in ihrer Sprache: «Meine Mutter ist reformiert, meine Onkel sind buddhistisch.» Die Leute gaben sich damit kaum zufrieden. Nochmals erklärte ich: «Mein Urgrossvater hatte zehn Kinder. Er wurde konfuzianisch erzogen, Taoismus und Buddhismus waren in seinen alltäglichen Handlungen eingebettet. Ein Ahnenaltar stand im Zentrum des Hauses. Als meine Grossmutter durch die Kriegswirren |29| des Ersten Indochina-Krieges im Alter von 25 Jahren ihren Mann verlor, bat sie ihren Vater um Erlaubnis, zum Christentum überzutreten. Mein Urgrossvater tat mehr, als es nur zu erlauben. Er beschützte sie in ihrem Entscheid in einer Zeit, in der gerade die westliche Kultur den Konflikt im Lande auslöste. Er unterstützte sie, nicht, weil er glaubte, das Christentum sei die bessere Religion, sondern weil er alle seine zehn Kinder liebte und jedem und jeder die Freiheit gab, die Religion zu wählen, die ihnen half, das Leben lieben zu lernen.» Mein Urgrossvater hat seine Heimat und seinen Geburtsort nie verlassen. Kein Krieg konnte ihn von seinem Herkunftsort wegbringen. Er starb in seinem Haus, nahe bei seinem Ahnen- und Familiengrab, das heute umgeben ist von Mais- und Reisfeldern, Bananenpalmen und Obstbäumen, vom Garten, den er einst so liebevoll inmitten der Herzen seiner Vorfahren pflegte und der ihn heute in seinem Schoss umarmt. Heute gehen manche Bauern an seinem Grab vorbei, und manche zünden Weihrauchstäbchen an, als wäre er auch ihr Urgrossvater. Mögen er und sein Garten auch ihnen Segen bringen. Doch wie lange sein Grab noch dort stehen darf, weiss nur der viel gelobte Fortschritt. Vielleicht kommt sehr bald ein Kran. Die Ahnen verschwinden, so auch die Bäume.

      Das Land der Ahnendüfte

      Meine Mutter hat also die Religion ihrer Mutter übernommen. Sie und ihre Mutter gingen jeden Sonntag in die einzige evangelische Kirche in Saigon (die ehemalige Hauptstadt Südvietnams, heute Ho Chi Minh), und ich folgte ihnen als Tochter und Enkelin. Ich ging am liebsten zu Weihnachten in die Kirche. Alle Kinder kriegten dann nämlich eine Tüte voller Bonbons, und die Erwachsenen waren an diesem Tag besonders nett, auch zu den hässlichsten. Ich erhielt auch die Gelegenheit, meine Tanten und Cousinen in buddhistische Tempel und in die katholische Kirche zu begleiten. Beeindruckt und gleichzeitig eingeschüchtert war ich vom aufsteigenden Rauch der Weihrauchstäbchen, der allmählich eine immer grössere und mächtigere Gestalt annahm und dann auf einmal verschwand, aber tief in alle meine Poren drang, so dass ich zu Hause noch lange den Duft der Gestalt an mir und in mir riechen konnte. In Vietnam machte ich mir wenig Gedanken über Gott und die Welt. Warum auch? Ich fühlte mich trotz den Bombardierungen um Saigon geborgen. Menschen, die ich liebte, waren da. Jeden Morgen durfte ich meine Lieblingssuppe essen, abends fuhr ich mit meinem Onkel und Cousin zum Hafen, um frische Muscheln zu geniessen. Ich freute mich auf die Regenzeit. Der Himmel, der meine Haut und die Seele mit seinen Tränen benetzte. Meine Heimat ist das Land der Ahnendüfte.

      Angst und Gottesnähe

      In der Schweiz ging meine Mutter in die freie evangelische Kirche und ich als ihre Tochter mit ihr. Zum ersten Mal hörte ich, was Gott liebte und hasste, wen er beschützte und bestrafte. Dass Jesus für mich am Kreuz gestorben sei. Dass ich sündig sei. Dass Adam und Eva meine Vorfahren seien und den Apfel gegessen hatten – die |30| Äpfel, die ich gar nicht mochte. Und dass ich mich vor dem Teufel in Acht nehmen sollte. Ich lernte die Angst, die ich vorher nicht kannte. Ich wurde von der New Life Gemeinde nochmals getauft, ich wurde fromm. Ich wusste nicht, wo ich Gott näher war: wenn ich in der Kirche von meinen Sünden hörte oder wenn ich jeden Mittwoch in die Bibelstunde ging oder wenn ich hörte, dass nur die Christen gerettet werden, oder wenn meine New-Life-FreundInnen sich Mühe gaben, meine Fragen zu beantworten und mich berieten, welche Bücher ich lesen sollte und welche besser nicht. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich in den Wald flüchtete, dort dem Rascheln der Blätter lauschte, mit den Vögeln sang und an den Garten meines Urgrossvaters dachte. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich den Mond betrachtete, der überall auf der Welt zu sehen ist, ob im Norden oder im Süden, ob auf dem Lande oder in den Städten. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich die mir entgegenrinnenden Regentropfen empfing. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich den Ameisen zuschaute, wie sie Samen sammelten, um ihre Nachkommen zu nähren, und sich wahrscheinlich nicht die Frage stellten, ob Gott eine rote oder schwarze Ameise sei. Ich sah Gott in den Gesichtern von Kindern, die mich nicht kannten und mich trotzdem lachend willkommen hiessen. Ich sah Gott in den Gesichtern von Menschen, die gestern noch Offiziere waren und durch den Krieg Rikschafahrer wurden und sich immer noch über die klare Nacht freuten, weil sie in ihrer Hütte die Sterne leuchten sahen. Ich sah Gott in den Gesichtern von Männern und Frauen, die mich mit ihrem Blick umarmten, als wäre ich ein Teil von ihnen: eine Schwester, eine Tochter, eine Tante …

      In die Bibelstunde kam ich immer mit der Frage, was mit den gläubigen Muslimen geschieht. Als ich neunzehn wurde, verliebte ich mich in einen Muslim. Er war ein gläubiger Mann. Meine Freunde klärten mich auf, dass ich als Christin besser einen Christen zum Mann wählen sollte. An einem Sonntag in der Kirche sangen wir gerade das Hallelujah. Ich sah plötzlich den jungen Mann in einer anderen Reihe. Er war gekommen, um mir eine Freude zu bereiten; und ich verstand, dass Gott keine Grenzen kennt. In diesem Augenblick war mein Gott auch sein Gott, wie sein Gott meiner ist.

      Wiederentdeckung

      Viele Jahre später lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Er ist katholisch. Er ging in die Kirche oft vor oder nach der Messe. Er betrachtete jede Skulptur, jedes Ornament genau. Er fand die meisten reformierten Kirchen zu abstrakt. Am Anfang konnte ich ihn nicht verstehen und fasste seine Bemerkungen fast als Beleidigungen auf. Dabei lehrte er mich, das wieder zu entdecken, was ich vergessen hatte. Wir besuchten viele Kirchen und betrachteten die Landschaft, in der sich die Kirchen befanden. Wir lernten die Sprache der Landschaft und der alten Traditionen kennen. Wir entdeckten Spuren, die mich in meine Heimat zurückbrachten. In manchen Kirchen zündete ich wieder Kerzen an, als wären sie Weihrauchstäbchen. Der Duft |31| der Myrrhe und Myrthen erinnerte mich an den Rauch in den Tempeln. Geschichten und Mythen, die mit der Landschaft und den Kirchen verwoben waren, erzählten mir von den Seelen der Steine, Quellen und Bäume. Sie erweckten in mir Kindheits- und Jugenderinnerungen. Wie oft sass ich im Wald und sprach mit den Bäumen. Stundenlang konnte ich am Strand den Wellen zusehen, wie sie kamen und gingen und wieder kamen und gingen – und mich sehen als einen Wellenschlag. Der Drache, gegen den der Heilige Georg kämpfte, flösste mir keine Angst mehr ein, ebenso wenig die Schlange, die Sankt Margaretha in den Händen hielt. Ich dachte an die Felsen in den Meeresbuchten von Ha Long (Fluss der Drachen), die sich in der Abenddämmerung in Riesenschildkröten und Drachen verwandelten. Doch Ungeheuer waren sie nie.

      Frau Frucht Herz

      Die Welt findet ihre Seele wieder und ich in ihr die meine. Meere gebären Flüsse (con song), wie die Erde als Mutter Kinder gebiert, nämlich Drachen (con rong) und Schlangen (con rang), Vögel (con chim), Fische (con ca), Hunde (con cho) und schliesslich auch die Menschen-Kinder (con nguoi). Denn in der vietnamesischen Sprache werden alle Lebewesen mit dem Klassificator «con», Kind, bezeichnet.