Gottloser Westen?. Alexander Garth

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Название Gottloser Westen?
Автор произведения Alexander Garth
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783374050284



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Wochenende vielleicht fünf verschiedene gottesdienstliche Veranstaltungen an einem Ort gibt. Und sie alle missionieren. Ihr besonderes Ziel: Deutsche, Europäer. Religionen sind heute weltweit vernetzt. Man fühlt sich als Teil einer großartigen globalen Bewegung, mit der man im regen Austausch steht. Zumeist handelt es sich um Gemeinden evangelikal-charismatischer Prägung, der dynamischsten christlichen Bewegung mit schätzungsweise einer halben Milliarde Gläubigen. Diese am schnellsten wachsende christliche Gruppierung stellt einen neuen Typ von Christentum dar, der weniger an Dogmen und Ordnungen ausgerichtet ist, sondern an Erfahrung und Emotion. Durch die Globalisierung verändert sich die religiöse Geographie. Es gibt heute weltweit schätzungsweise 200 Millionen Migranten. In Europa leben nicht nur ca. 15 Millionen Muslime. Viele Migranten kommen aus einem christlichen Hintergrund. Neben den einheimischen Kirchen entstehen unzählige Migrantenkirchen und beginnen mit ihrer intensiven Glaubenspraxis die alten europäischen Christentümer zu beeinflussen. In London gehören 27 % aller Orte, an denen Gottesdienste stattfinden, schwarzen Migrantengemeinden (2012), und 24 % all derer, die am Sonntag einen Gottesdienst besuchen, haben einen schwarzen afrikanischen Migrationshintergrund.25 Menschen, die ihre Heimat verlassen, suchen in der neuen, fremden Umgebung Halt und Identität. Diese finden sie in ihrer Religion. Sie stärkt das Selbstbewusstsein, stiftet Gemeinschaft und verleiht das Gefühl von Heimat in der Fremde. Es ist eine Grunderkenntnis der Religionsforscher: Migration stärkt Religion. Monica Toft schreibt: »Globalisierung treibt die Immigration und Kommunikation voran und fördert die Unabhängigkeit religiöser Gruppierungen und stärkt deren Identität als Agenten transnationaler Gemeinschaften.«26 Im Großraum Paris sind in den letzten Jahren über 200 neue evangelische Gemeinden entstanden, zumeist durch Einwanderer. Es ist damit zu rechnen, dass das europäische Christentum durch Migranten eine Wiederbelebung erfährt.

      Missionarische Spiritualität

      Soziologische und politische Faktoren allein genügen nicht, um das unglaubliche Wachstum der Kirchen außerhalb des Westens zu erklären. Deren Vitalität und Charme ist vor allem eine Frucht der leidenschaftlichen Spiritualität, die diese aufstrebenden Bewegungen durchglüht. Der fundamentale Unterschied zwischen der Spiritualität des Westens und der Spiritualität außerhalb unseres Kulturraumes ist mir bei einem Besuch in der Kirche der Nationen in Jerusalem lebendig vor Augen gebracht worden. Als unsere deutsche Gruppe diese berühmte Kirche besuchte, waren gleichzeitig eine Pilgergruppe aus Afrika und eine aus Südkorea vor Ort. Die Südkoreaner knieten und beteten laut und alle auf einmal. Die Afrikaner in der anderen Ecke der Kirche tanzten singend und betend mit erhobenen Händen durch den Raum. Wir Deutschen standen am Eingang und beobachteten mit verschränkten Armen das fromme Treiben. Während die anderen beteten und Gott lobten, analysierten und kommentierten wir Westler distanziert deren praktizierten Glaubenseifer.

      Was kennzeichnet eigentlich die Frömmigkeit und Theologie der jungen und dynamisch wachsenden Kirchen der nichtwestlichen Welt?

      Was zuerst ins Auge fällt ist die Inbrunst, mit der die Christen aus diesen Kirchen beten, singen und Christus feiern. Sie rechnen mit der Gegenwart des Übernatürlichen, glauben, dass Gott helfend und heilend in das Leben eingreift und erleben Manifestationen der Macht Christi im Leben der Gemeinde. Wenn man Gemeindegründungen in Indien, Afrika oder Südamerika untersucht, so fällt auf, welche entscheidende Rolle Glaubensheilungen und Wunder für den Erfolg der Kirchen spielen. Das gilt sowohl für traditionalistisch orientierte Kirchen wie die römisch-katholische, lutherische und anglikanische, als auch für neue evangelikal-pfingstlerisch geprägte Kirchen. Vor etwa zehn Jahren besuchte ich mit Felix, einem befreundeten Theologiestudenten, Gemeindeneugründungen in Südindien. Wir folgten der Einladung eines bekannten Gemeindegründers und Bischofs einer großen Pfingstkirche. Fast alle erfolgreichen Gründungen, die wir kennenlernten, gingen zurück auf besondere spirituelle Kraftwirkungen, die meist am Anfang der Entstehungsgeschichte der jungen Gemeinde stehen.

      Eine Geschichte ist mir besonders deutlich in Erinnerung: Wir besuchten eine christlich geprägte Kleinstadt. Schon von weitem fiel uns die neue große Kirche auf, die sich über die Dächer der Häuser erhob. Die Gemeinde wurde vor ca. 25 Jahren von einem Inder gegründet, der während seiner Armeezeit durch einen christlichen Kameraden zum Glauben gekommen war. Nach absolviertem Wehrdienst besuchte er eine Bibelschule. Er hoffte, er könnte in einer Großstadt eine ansehnliche Gemeinde als Pastor übernehmen. Aber er spürte, dass Gott ihn zurückschickt in die Kleinstadt seiner Heimat. Dort missionierte er einige Jahre ohne Erfolg. Eines Tages betete er mit einer Frau um Heilung. Sie litt an einer chronischen Hepatitis-B-Erkrankung mit schweren Symptomen. Die Frau erfuhr eine übernatürliche Spontanheilung, die vom Arzt bestätigt wurde. Das Wunder sprach sich schnell in der Stadt herum. Menschen kamen mit ihren Beschwerden, Sorgen und Fragen zu dem jungen Missionar. Er betete für sie, hielt Glaubenskurse, Gottesdienste und missionarische Versammlungen für die Stadt. Immer mehr Menschen öffneten sich für die christliche Botschaft, und eine eindrückliche Ortsgemeinde entstand.

      Das ist nur eine von vielen Geschichten über Wunderwirkungen, die man uns bezeugte. Ich predigte einmal in einer Gemeinde in Bangalore, die durch besondere Kraftwirkungen entstanden war. Auf meine Frage an die Gemeindeglieder, was sie bewegt hatte, sich vom Hinduismus abzuwenden und sich Jesus Christus zuzuwenden und sich taufen zu lassen, erhielt ich eine einfache Antwort: »Der Gott der Christen ist stärker als unsere alten Götter.« Was die Menschen zum Glauben kommen ließ, war nicht eine überzeugendere oder wenigstens menschenfreundlichere Theologie. Es waren die erfahrenen Kraftwirkungen.

      Christen von wachsenden Gemeinden außerhalb des westlichen Kulturkreises leben mit einer großen Selbstverständlichkeit das, was Lutheraner »das allgemeine Priestertum aller Gläubigen« nennen und Katholiken »Laienapostolat«. Der »normale« Christ ist von Gott berufen und begabt, ein Zeuge des Evangeliums und ein Träger der Kraft Christi zu sein. Die Gemeinden entwickeln vielfältige Programme, um die Glieder ihrer Gemeinden zu schulen und zuzurüsten für den Missionsauftrag in dieser Welt. In meiner Verwandtschaft gibt es eine Frau, die in Mittelamerika in einer dieser neuen dynamischen Kirchen zum Glauben fand. Tante Conny war mit einem Schweizer Brückenbau-Ingenieur verheiratet und lebt in Guatemala. Sie war oft allein, während ihr Mann irgendwo in Amerika Brücken baute. Mehrmals die Woche kam ihre guatemaltekische Masseurin. Während sie Tante Conny durchknetete, erzählte sie die ganze Zeit begeistert von ihrem Glauben und ihrer Gemeinde. Eines Tages lud sie die Tante in ihre Gemeinde ein. Die veranstaltet einmal im Monat eine »Noche de amigos«, eine »Nacht der Freunde«, ein besonderer missionarisch-kreativer Gottesdienst für Gemeindefremde. Tante Conny fand diesen Abend und die Gemeinde ansprechend und begann die Kirche regelmäßig zu besuchen. Die deutsche Verwandtschaft war recht verwundert, als Tante Conny bei einem Heimatbesuch verlauten ließ, dass sie zu Jesus gefunden habe.

      Freunde erzählten mir ein Erlebnis, wie während einer Busreise in den Bergen irgendwo in Chile ein einfacher Bauer aufstand, um das Busmikrofon bat und seine Geschichte erzählte, wie er zum Glauben an Jesus fand, während die Reisenden im Bus andächtig zuhörten.

      Wenn man in den Kirchen zu Gast ist, in denen diese Christen zu Hause sind, so fällt auf, mit welchem hohen Einsatz und welcher Opferfreude die Gemeindeglieder ihren Glauben leben. Sie spenden den Zehnten ihres kärglichen Einkommens für die missionarischen Aufgaben der Gemeinde. Sie engagieren sich ehrenamtlich mit einem ungeheuren Aufwand an Zeit. Sie halten Bibelstunden in ihrer Nachbarschaft. Sie sind bereit, mit ihrer Familie umzuziehen, um in einem anderen Stadtteil eine Tochtergemeinde zu gründen. Sie bemühen sich ernsthaft um einen reinen und moralischen Lebenswandel. Die Männer werden angehalten, ihren Frauen treu zu sein, Bordellbesuche einzustellen, sich um ihre Familien zu kümmern und sie mit einem guten Job ordentlich zu ernähren. Was in diesen Gemeinden auffällt, ist die aufgewertete Rolle der Frau. Sie sind oft die eigentlichen Träger der Gemeindearbeit vor Ort und der Grund für den Erfolg dieser wachsenden Kirchen.

      Der Umgang mit der Bibel ist praktisch und fundamentalistisch. Sie wird vor allem als Anweisung zum Handeln verstanden. Wenn Gottes Wort etwas sagt, dann ist es richtig und wir wollen es tun. Bibelkritik, wie sie in den Kirchen des Westens üblich ist, wird als menschlicher Hochmut zurückgewiesen.27

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