Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?. Mirjam Mous

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Название Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?
Автор произведения Mirjam Mous
Жанр Учебная литература
Серия Data Leaks
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401809236



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würde nicht zulassen, dass ich mich so blamiere.«

      »Du stellst dich an, Pris.« Mamas Stimme wird schärfer. »Das weiße Kleid steht dir ganz wunderbar!«

      Ich kann Brooklyns sengende Blicke schon spüren. Sie wird schweigend auf mich herabschauen.

      »Was bist du nur für eine Mutter!«, kreische ich.

      Ich schnappe mir mein Homepad, stampfe zur Tür und drücke auf den Knopf. Geräuschlos öffnet sie sich. Ein völlig unspektakulärer Abgang. Später will ich wie Oma in einem alten Haus wohnen, wo man die Türen noch von Hand mit der Klinke öffnen muss, damit man sie anschließend mit einem lauten Knall hinter sich zuschlagen kann.

      Sobald ich in meinem Zimmer bin, schalte ich mein Camphone ein.

      Fuck Mo. Ich brauche meine Freundinnen.

      Hundert verpasste Nachrichten, Camfies und Filmchen. Und ein Notschrei von Flow: Ist dein Akku leer, oder was?

      Ich clicke ihr sofort zurück. Bin wieder da.

      Endlich, antwortet sie. Camchat!

      »Ich wollte mir gerade die Haare waschen«, sagt Anna, sobald sie auf dem Monitor erscheint. »Würdest du es mir morgen hochstecken, Pris? Keine kann das so gut wie du.«

      Komplimente sind fast so schön wie neue Schuhe. Meine Laune wird sprunghaft besser.

      »Na klar«, sage ich und parke das Gezänk mit Mama vorerst in einer Ecke meines Kopfes. »Was für ein Kostüm hast du? Dann kann ich schon mal brainstormen.«

      »Nicht sagen!«, ruft Flow. »Das bringt Unglück.«

      Eine Vlogweisheit von Reese.

      »Ein paar Hinweise sind doch wohl drin?« Heimlich hoffe ich, dass Anna auch in Weiß geht. Sich gemeinsam zum Gespött machen ist weniger schlimm.

      »Ein Kleid«, verrät sie. »Und dazu gehört eine Tiara.«

      »OMG!«, ruft Brooklyn gespielt schockiert. »Du gehst als Eiskönigin!«

      Alle drei brüllen vor Lachen, als hätten sie gerade den Witz des Jahrhunderts gehört. Ich lache treudoof mit, während es in meinem Kopf dröhnt: Sie haben Reeses Vlog also auch gesehen, war ja klar!

      »Ich passe schon auf«, sagt Anna. »Und es ist natürlich auch kein Schmetterlingskleid.« Sie seufzt. »Erinnert ihr euch noch, dass Karen letztes Jahr so einen idiotischen Anzug trug, den ihre Mutter genäht hatte? Als jemand ein Camfie von ihr auf Supershoot stellte, wurde sie ganz schön niedergemacht.«

      Flow nickt. »Echt megabedauernswert.«

      Ich räuspere mich. Das ist der Moment, es zu erzählen …

      »Tut mir leid«, sagt Brooklyn. »Aber wenn man so etwas anzieht, ist das ja wohl auch vorprogrammiert, oder?«

      Die Wörter zerbröseln in meinem Mund.

      »Na ja«, sagt Flow. »Unsere Kostüme sind bestimmt klasse. Morgen um halb elf bei mir. Umziehen, schminken.«

      Als meine Freundinnen nicken, bewegt sich mein Kopf automatisch mit – als hinge ich mit einer unsichtbaren Kette an ihnen fest.

      Mama findet Schmuck lästig. Sobald sie zu Hause ist, legt sie sogar ihr ID-Bändchen in der Diele auf das Schränkchen neben Papa. Von seinem Filmrahmen aus schaut er alle an, die in die Wohnung kommen. Ein leichtes Lächeln. Augen, die zwinkern, als würde er noch leben …

      Ich drehe den Rahmen um, bevor ich das Bändchen nehme.

      Ich melde mich bei Colourcompany an, ziehe das rote Kleid in den Warenkorb und klicke auf Bezahlen. Als ich Mamas Bändchen unter den Leser halte, leuchtet es auf.

      Es ist nur geliehen, beruhige ich mich selbst. Ich lasse das Label dran, dann kann ich das Kleid nach Happy Day zurückschicken. Mama braucht gar nichts zu merken. Solange ihr Saldo am Monatsende zu stimmen scheint, lässt sie das mit dem Kontroll-Update meistens sein.

      SIE HABEN BEZAHLT, steht da.

      Ich fühle mich wie eine Diebin.

      Holden

      Nach seinem Tod wurde Pas Arbeitszimmer zur Rumpelkammer degradiert. Der Schreibtisch mit dem eingebauten Ladegerät steht noch da. Der Computer und das Elektronenmikroskop haben Kartons Platz gemacht. Ma hat jeden einzelnen mit einem Etikett versehen: SPORTARTIKEL, KLEIDUNG PRISSY, HAPPY DAY …

      Den habe ich gesucht. Ich schütte den Inhalt der Kiste auf den Boden und setze mich daneben. Prissys kilometerlange Halsketten dürfen wieder in den Karton zurück, ebenso ein Papierfächer, eine rote Clownsnase und eine gepunktete Wollstrumpfhose.

      Bei den Schminkpaletten zögere ich kurz. Ich hasse Make-up, aber mit einem bemalten Gesicht bin ich nicht so leicht erkennbar.

      Obwohl …

      Angenommen, ich werde von einem Ordnungshüter verfolgt und muss in der Menschenmasse verschwinden. Eine Perücke kann man abnehmen oder schnell eine Kapuze überziehen. Mein schwarzer Hoodie ist im Handumdrehen rot, wenn ich ihn auf links drehe und wieder anziehe. Aber mich im Wegrennen abschminken …

      Die Schminke wandert auch zurück in den Karton.

      Der falsche Schnurrbart wäre vielleicht was. Oder noch besser: die Guy-Fawkes-Maske!

      Als ich sie hochhebe, fällt ein Ring daraus hervor. Pas dicker Klunker – auf‌fällig glitzernd mit einem Fake-Edelstein in Tischtennisballgröße! Elstern fänden ihn sicher supergut.

      Zum Spaß schiebe ich ihn mir auf einen Finger und strecke den Arm, damit ich ihn von etwas weiter weg anschauen kann – und plötzlich habe ich einen dicken Kloß im Hals.

      Unser letzter Happy Day mit der ganzen Familie – und wir hatten keine Ahnung.

      Feixend kam Pa die Treppe herunter. In seinem weißen Gangster-Anzug, einen ganzen Laden voller Falschgold-Ketten um den Hals und das Hemd offen bis zum Bauchnabel. Seine drei Brusthaare hatten sich auf wundersame Weise vervielfältigt. Ein Trick von Ma, die ihm mit einem Augenbrauenstift Locken auf die Brust gezeichnet hatte, was bis auf Prissy alle witzig fanden. Sie meinte, Pa sollte sich lieber als Prinz oder Popstar verkleiden.

      Im Nachhinein wäre eine Verkleidung als Leiche besser gewesen. Oder als wandelndes Skelett.

      Ich kann Pa fast lachen hören. Genau wie ich liebte er derbe Scherze. Das machte unsere Beziehung so besonders – dieser grobe Humor, den Prissy und Ma überhaupt nicht nachvollziehen konnten, wir beide aber schon.

      Bis er mich im Stich ließ.

      Mein Fuß holt aus und donnert gegen den Karton, der wie ein Puck beim Eishockey durch das Zimmer schießt und an der Wand zum Stillstand kommt. Wütend reiße ich mir den Ring vom Finger und schmeiße ihn hinterher.

      Es ist so verdammt unfair!

      »Holden?«, ruft Ma.

      Manchmal glaube ich, sie hat eine eingebaute Sicherheitskamera, die alle Geräusche und Bewegungen in diesem Haus aufnimmt.

      »Alles in Ordnung!«, brülle ich zurück.

      Ich setze die Guy-Fawkes-Maske auf. Aus irgendeinem Grund wirkt sie beruhigend – als säße ich in einem sicheren Zelt.

      Test.

      Ich spähe durch die schmalen Augenschlitze. Geradeausschauen geht prima. Um mitzukriegen, was neben mir passiert, muss ich den Kopf zur Seite drehen, aber das ist kein Problem. Ich beuge mich vor, um ein paar Sachen vom Boden aufzuheben. Die Maske bleibt perfekt an ihrem Platz und …

      Shit, ich habe den Ring zerlegt. Er liegt neben der Fußleiste, nur noch verziert mit einem runden Gewinde. Der Stein muss sich gelöst haben.

      Da! Unter dem Schreibtisch glitzert ein nicht zu verfehlender blauer Klunker.

      Ich gehe auf die Knie und angle nach dem Stein. Zu meinem großen Erstaunen ist er hohl und … Das Blut pocht in meinen