Название | Das Familiengeheimnis |
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Автор произведения | Peter Beuthner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738093650 |
„Ja, durchaus. Es sind nun mal nicht alle Schüler gleich gut. Und wir wollen nicht, daß die besseren durch die schlechteren Schüler in ihrem Lernen behindert oder aufgehalten werden. Jeder Schüler soll möglichst optimale Bedingungen unter seinesgleichen vorfinden. Also fassen wir die jeweils Guten, die Mittelmäßigen und die Schwächeren separat in unterschiedlichen Schulen zusammen.“
„Ist ja interessant“, staunte Ellen. „Aber ganz anders als bei uns. Gibt es da keine Probleme mit Klassenneid und Schüler-Frustration?“
„Vielleicht unterschwellig. Das kann ich nicht ganz ausschließen. Aber auf die persönlichen Befindlichkeiten eines jeden einzelnen können wir angesichts der großen Zahl von Schülern leider keine Rücksicht nehmen. Und im übrigen hat sich noch niemand darüber aufgeregt. Es ist ein eingeführtes System, und es hat sich über viele Jahrzehnte bewährt. Gewiß, die Erwartungshaltung ist hoch, der Leistungsdruck für die Schüler entsprechend enorm. Manche erliegen dem Streß. Aber zum einen müssen wir der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Schüler Rechnung tragen – es ist eben nicht jeder zu Höchstleistungen fähig –, zum anderen müssen und können wir schon auf Grund der großen Menge Heranwachsender selektieren. Mit lauter durchschnittlich gebildeten Menschen ist unserem Staat nicht gedient. Immerhin bekommt bei uns jeder die gleichen Chancen, da kann sich keiner beklagen. Aber er muß sie auch nutzen. Wer sie nicht nutzt oder nicht nutzen kann, weil ihm die intellektuellen Voraussetzungen fehlen, der muß sich zwangsläufig mit einer anderen, gegebenenfalls bescheideneren Rolle zufrieden geben.“
„Sie haben natürlich recht, die Menschen sind in der Tat sehr unterschiedlich in ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Dem muß man selbstverständlich Rechnung tragen. Die Frage ist nur, in welcher Form das geschieht. Und hier vertrete ich die Auffassung, daß die weniger leistungsfähigen oder leistungswilligen Mitglieder der Gesellschaft nicht schon durch das System von vornherein bloßgestellt, ausgesondert und damit in ihrem Selbstbewußtsein beschädigt werden dürfen.“
„Wer tut das denn?“
„Nun, ich könnte mir vorstellen, daß für Schüler einer Mittelschule, die keinen guten Ruf hat, allein schon diese Tatsache ausreicht, um deprimiert oder gar frustriert zu sein, weil sie damit schlechtere Berufsaussichten haben, und weil sie wissen, daß auch alle anderen das wissen, wenn sie nur den Namen der Schule hören. Ich denke dabei so ein bißchen an unsere früheren Hauptschulen.“
„Ja, aber bei Ihnen wird doch auch differenziert. Es können schließlich nicht alle studieren und Gelehrte werden! Abgesehen davon, daß nicht alle gleiche intellektuelle Voraussetzungen mitbringen, brauchen wir ja auch die vielen unterschiedlichen Berufe. Und dabei sind sehr viele Berufe, für die gar kein Studium benötigt wird. Also, ich verstehe im Moment wirklich nicht Ihren Einwand.“
Ellen wurde etwas verlegen. Ihre Gesprächspartnerin fühlte sich augenscheinlich ein wenig provoziert, dachte sie. Und dabei lag das gar nicht in ihrer Absicht. Noch während sie angestrengt überlegte, wie sie diese Situation entkrampfen könnte, kam ihr Chan zu Hilfe, indem sie zu vermitteln versuchte: „Ich denke, die Tatsache, daß die Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft sehr unterschiedlich ist und daß aber gerade diese unterschiedlichen Fähigkeiten in der Gesellschaft auch alle gebraucht werden, ist unstrittig. Und da habt Ihr, soweit ich das verstanden habe, auch gar keinen Dissens. Die Frage, die nun im Raum steht, ist, wie die jeweilige Gesellschaft dieses Faktum bestmöglich organisiert. Und da haben wir offenbar etwas unterschiedliche Systemansätze, was ja per se gar kein Fehler ist. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten zur Lösung eines Problems. Jede hat bestimmte Vorteile, aber auch bestimmte Nachteile, die es gegeneinander abzuwägen gilt. Eine ideale Lösung wird sich selten finden; das Normale ist eine Kompromißlösung.“
„Das ist richtig“, beeilte sich Ellen zu sagen. „Ich wollte eigentlich auch nur verstehen, wie und wie gut Euer chinesisches Ausbildungssystem funktioniert. Ich erzähle nachher gern noch über unser europäisches System, wenn Sie das interessiert, Frau Li. Aber ich glaube, ich hatte Sie vorhin mit meinen Fragen unterbrochen, als Sie über die verschiedenen Abschlußprüfungen sprachen.“
„Ja, richtig“, nahm Frau Li ihren Faden wieder auf. „Bei der Abschlußprüfung nach der neunten Klasse waren wir wohl stehengeblieben, denke ich. Ja, da entscheidet sich, wie schon gesagt, wer die Zulassung für die Oberstufe erhält. Ungefähr ein Drittel der Schüler schaffen den Sprung in die Oberstufe.“
„Nur ein Drittel?“
„Ja, 30 bis 40 Prozent.“
„Und die anderen?“
„Wie schon gesagt, die können, wenn sie die Aufnahmeprüfung dazu schaffen, eine Fachoberschule oder eine Berufsfachschule für zwei bis vier Jahre besuchen. Andernfalls steigen sie direkt ins Berufsleben ein.“
„Hmm, erinnert mich so ‘n bißchen an unser früheres Schulsystem in Deutschland“, sinnierte Ellen vernehmlich. „Da ging die Mittelschule, die sogenannte Realschule, auch zunächst bis zur neunten, später bis zur zehnten Klasse. Und das Gymnasium wurde nach der zwölften Klasse mit dem Abitur abgeschlossen.“
„Ja, nach zwölf Jahren wird auch bei uns die Schule mit einer Abschlußprüfung – vergleichbar dem hiesigen Abitur – abgeschlossen. Danach müssen dann aber noch all diejenigen, die ein Studium beginnen wollen, eine landeseinheitliche Hochschulaufnahmeprüfung absolvieren. Das Ergebnis entscheidet darüber, wo und was man studieren darf. Ein Studium an der Universität dauert vier Jahre, an einer Fachhochschule zwei Jahre.“
„Heißt das, die Schüler können nicht selbst bestimmen, wo und was sie studieren wollen?“
„Nun, die Bewerber können schon Wünsche bezüglich Universität und Studiengang äußern. Ob diese allerdings erfüllt werden, das hängt ganz wesentlich vom Ergebnis ihrer Hochschulaufnahmeprüfung sowie von der Aufnahmekapazität der betreffenden Universität ab. Da kommt es schon häufiger mal vor, daß einer etwas ganz anderes studieren muß, als er gewünscht hatte. Soweit ich informiert bin, gibt es ja bei Ihnen in Europa auch immer noch den Numerus clausus in bestimmten Fachrichtungen. Das ist also gar nichts Besonderes, sondern weitverbreitete gängige Praxis. Außerdem müssen wir ja auch die Möglichkeit der Bedarfssteuerung haben, um Fehlentwicklungen – Überschuß in einer Berufsgruppe und Mangel in einer anderen – zu vermeiden. Das ganze Zulassungsverfahren wird bei uns für sämtliche Studienfächer zentral verwaltet. Anders wäre das auch gar nicht möglich.“
„Hmm. . . . Können wir noch mal auf das Benotungssystem zurückkommen? Gibt es bei Ihnen Zensuren? Eins bis Sechs?“ wollte Ellen wissen.
„Nein. Wir haben ein Punktesystem. Dabei können die Schüler pro Fach maximal 100 Punkte, sollten aber mindestens 60 Punkte erreichen. Denn wer weniger als 60 Punkte geschafft hat, muß im nächsten Schuljahr auf eine weniger gute Schule wechseln, und das trifft üblicherweise rund 50 Prozent der Schüler. Da trennt sich also die Spreu vom Weizen, wie ihr in Europa so schön zu sagen pflegt.“
„Das ist hart“, fand Ellen. „Daß da so stark ausgesiebt wird?!“
„Wir haben jährlich an die 400 Millionen Kinder in der Ausbildung! Nicht jeder ist dazu prädestiniert, zur Elite zu gehören!“ entgegnete Frau Li kühl. „Nur die sehr guten, außerordentlich fleißigen, extrem leistungsbereiten Schüler kommen in den Genuß einer Hochschulausbildung. Nicht umsonst nehmen so viele Chinesen heute einen Spitzenplatz in der wissenschaftlichen Weltelite ein. China hat sich enorm entwickelt, worauf wir alle sehr stolz sind.“
„Ja, darauf können Sie wirklich stolz sein“, stimmte Ellen spontan zu. „China hat in der Tat eine enorme Entwicklung in den letzten 100 Jahren vollzogen. Da hat Europa – trotz seines hohen Bildungsniveaus – inzwischen Mühe, auch nur einigermaßen Schritt zu halten.“
„Ein