Weltschmerz und Wahnsinn. Magdalena Ungersbäck

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Название Weltschmerz und Wahnsinn
Автор произведения Magdalena Ungersbäck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077695



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brauchen nämlich die Punkte, wenn wir die Wohnung bekommen wollen und du einen neuen Job in Shanghai willst!“

      „Ich weiß. Das ist jetzt keine Neuigkeit mehr!“ Ich bin genervt von seiner ständigen Leier wegen der Punkte.

      Seit einigen Jahren gibt es eine Testphase in einigen chinesischen Städten für das Sozial-Kredit-System. Danach bekommt man Plus- oder Minuspunkte für sein Verhalten. Wenn du zum Beispiel auf die Straße spuckst oder bei Rot über die Straße läufst, bekommst du Minuspunkte. Wenn du regelmäßig deine Eltern anrufst oder jemandem hilfst, Sachen, die ihm zu Boden gefallen sind, aufzuheben, dann bekommst du Pluspunkte. Das soziale Verhalten zählt. Die Kameras nehmen alles auf. Sobald du zu viele Minuspunkte auf deinem Konto hast, kommst du auf die Schwarze Liste und dann ist dein Leben eigentlich gelaufen. Du wirst kein Zug- oder Flugticket mehr erhalten, keine Wohnung und keinen Job finden oder deine jetzigen Besitztümer sogar verlieren. Wie surreal das klingt! Ab 2020 soll dieses Punktesystem in ganz China gelten. Xiaolong und ich wollen natürlich jetzt schon viele Punkte machen, damit wir bald in Shanghai ein schönes Leben beginnen können. Ein schönes Leben. Er soll trotzdem mit dem Geschwafel von den Punkten aufhören. Das Kind ist wohl wichtiger.

      „Wie geht es Maja?“, frage ich ihn, „wart ihr im Krankenhaus?“

      „Ja. Sie schläft jetzt. Sie hat die Infusionen bekommen und auch neue Medikamente“, antwortet mein Mann, ohne den Blick von der geschlossenen Zeitung zu nehmen.

      „Hat sie wieder erbrochen?“

      „Ja, aber nur ein einziges Mal!“

      „Gut. Ich gehe zu ihr!“

      Ich drehe mich um und gehe in Majas Zimmer. In das Zimmer meiner zwölfjährigen Tochter. Vorsichtig öffne ich die Türe und schleiche mich an ihr Bett. Es ist stockdunkel, die Vorhänge sind zugezogen und es riecht nach Schlaf. Ich sehe rein gar nichts, muss mich langsam und unbeholfen vorantasten. Nur ihr sanftes Atmen ist zu hören. Sachte lasse ich mich auf ihrem Bett, neben ihr, nieder und streichle ihr zartes, warmes Gesicht. Sie hat das alles nicht verdient. Sie ist zu lieb für diese Welt, für dieses Schicksal. Mein armes Kind. Der Vater redet nur von Punkten, die Mutter ständig im Büro, das Kind verseucht von Leukämie.

      Jack

      61 Jahre, Nähe Houston, Texas, USA

      27. November 2019

      Ich mache meinen stündlichen Rundgang, um zu sehen, ob auch alles seine Ordnung hat. Die Rinder sind schon wieder unruhig und bocken nur. Am liebsten würde ich ihnen allen nacheinander die dummen Schädel durchschießen. Aber am nächsten Tag würde ich es bereuen, da bin ich mir sicher. Eigentlich liebe ich sie doch. Und ich brauche sie, halte sie nicht zum Vergnügen. Meine Farm ist riesig, meine Rinderherde auch. Trotzdem bin ich weit und breit der einzige Mensch hier. Da und dort tummeln sich ein paar Farmarbeiter herum, aber eigentlich bin ich allein. Drei Söhne habe ich in diese gottverdammte Welt gesetzt und keinem dieser Idioten scheint mein Erbe etwas zu bedeuten, keiner dieser Nichtsnutze will meine Farm übernehmen. Nun gut, Benny, meinem Ältesten, sei es verziehen, denn er dient dem Vaterland, riskiert sein Leben als Soldat. Ein richtiger Mann. Aber die anderen beiden – pure Versager. Luke kritzelt irgendwelche Bilder, nennt sich Künstler und verdient nicht einmal genug zum Fressen. Und Josh? Keine Ahnung, wie man das nennen soll, was er da macht. Nimmt sein Leben mit der Kamera auf und irgendwelche Leute, die nichts Besseres im Sinn haben, schauen sich seine Videos im Internet an. Idiotisch. Wenn er wenigstens im Fernsehen wäre. Seit 61 Jahren lebe ich auf dieser Farm, auf der schon mein Vater und Großvater gearbeitet haben, und meinen Söhnen ist das egal. Sobald ich unter der Erde liege, werden sie mein Lebenswerk verkaufen. Die hundert Rinder, die vier Pferde, den Hund, die Katzen, die von selbst immer mehr werden, die Felder, die Ställe, mein Haus. Alles für nichts. Deshalb habe ich sie auch verjagt, will sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Nur von Benny bekomme ich noch ein Lebenszeichen. Hin und wieder, wenn es seine Situation zulässt. Ich drehe um, stapfe ins Haus zurück, neben dem die amerikanische Flagge im Wind flattert. Mein Haus, meine Farm, alles hier ist Amerika, wie ich es liebe. Das alles erinnert an Westernfilme, in denen Cowboys durch die Gegend reiten. Hier bin ich der Cowboy. Oder zumindest war ich es einmal. Vor langer Zeit. Als die Welt noch in Ordnung war. Ich stehe in der dunklen Küche und starre in den Spiegel, der neben dem Kühlschrank hängt. Vor vielen Jahren hatte ihn Sarah dort platziert. Sie brauchte in jedem Zimmer einen Spiegel, musste immer wissen, wie sie aussah. Wie sehr ich es liebte an ihr! Nun schaue ich in diesen Spiegel, sehe nur ein grimmiges, faltiges Gesicht mit einem zerschlissenen Cowboyhut auf dem Kopf. Wie wütend mich dieser Anblick macht! Ich erinnere mich daran, als Josh vor zwei Monaten hier war, wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben und, genauso wie Sarah damals, in den Spiegel sah. Kurz war ich gerührt. Doch dann fing er an, sich über die Internetverbindung zu beschweren und tobte wie ein Rumpelstilzchen, welche Katastrophe es war, dass er sein Video nun nicht pünktlich „hochladen“ konnte. Wo auch immer er es „hochladen“ wollte. Er meinte, er habe fast vergessen, wie öde es hier war. Nicht so aufregend und glamourös wie in Miami, wo er nun mit seinen Millionen auf dem Konto lebt, wie er immer keck andeutet. Sein Geld war mir egal, seine Videos, sein blondes, langbeiniges Model auch, und sein beschissenes Miami sowieso. Er tippte ständig auf seinem Smartphone, war gar nicht richtig ansprechbar. Wie im Koma. Und als er dann noch meckerte, warum ich nicht einmal ein Smartphone habe, nur einen alten Fernseher und ein Tastenhandy und generell noch im 19. Jahrhundert lebe, packte mich die Wut und ich vertrieb ihn mit allem, was mir in die Hände fiel. Jetzt sehe ich nur mich selbst und mein grausames Leben im Spiegel. Beinahe drohe ich vor Wut zu platzen. Früher hätte mich Sarah angelächelt, mir über den Rücken gestreichelt und alles wäre gut gewesen. Doch sie ist ja nicht mehr da. Das Einzige, das bleibt, sind Fotos. Und meine Rinder. Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich verliere mich in meiner Wut, stehe neben mir, wie der Statist meines Lebens. Ich raste aus, schnappe über, hasse alles und jeden. Schlage brüllend mit der Faust auf den Spiegel ein, bis die Scherben sich in meine Haut fressen, die Scherben meines Lebens, die Scherben der Erde. Das Blut läuft mir die Hand hinunter, tropft langsam auf den Boden. Und trotzdem wird es einfach nicht besser.

      Amira

      7. Dezember 2019

      Natürlich weiß ich, dass ich mir selbst den Stress mache, aber die anderen, die anderen sind doch schuld daran. Sie reichen mir den Koffer aus Angst und Stress und ich trage ihn auch noch. Ich Idiotin schleppe ihn einfach mit, ich tue mir keinen Gefallen damit. Doch es wäre unhöflich und unangebracht, den Koffer einfach stehen zu lassen. Ich weiß, ich sollte den Koffer einfach stehen lassen. Aber ich kann nicht, ich kann es einfach nicht. Wenn man es gewohnt ist, immer gute Leistungen zu erbringen, dann möchte, nein, dann muss man dieses Niveau auch aufrechterhalten. Nicht nur, weil man es sich selbst beweisen will, sondern auch weil die anderen es für selbstverständlich halten. Familie, Lehrer. Die Fallhöhe eines Einserschülers auf eine Vier ist doch gewaltiger, länger und schmerzhafter, als von einem Viererschüler auf eine Fünf. Es sind immer Versagensängste im Spiel. Obwohl es doch eigentlich egal wäre, ob man eine Eins oder eine Vier bekommt, positiv ist positiv. Kein Hahn kräht danach. Wie oft ich das höre und gleichzeitig weiß, dass die Realität ganz anders ist. Die Familie sagt mir, dass Noten nicht wichtig sind, dass sie nicht enttäuscht oder gar böse sind, wenn es ein Vierer und kein Einser ist. Und wenn es dann wirklich einmal eintritt, was dann? Dann werde ich angeschrien oder einfach nur enttäuscht angestarrt. Dann bin ich plötzlich schlampig und faul. Tatsache ist, dass ich angefaucht werde, dass ich noch schön schauen werde, wie das mit mir weitergehe, dass die Fünf schon in Sichtweite sei und die Matura eine Katastrophe werden würde, wenn es so bliebe. Kein Aufmuntern, kein Trost, kein Beschwichtigen. Immer nur Angst, Vorwürfe und Druck. Der Druck der kalten Hand auf meinem Rücken, der immer fester wird. Dann frag ich mich, wie es den tatsächlichen „Fünferkandidaten“ gehen muss, die immer auf der Kippe stehen und in den finsteren Abgrund blicken müssen. Vielleicht ist es ihnen egal, denn sie kennen es nicht anders, sie sind es gewohnt. Warum sich vor etwas fürchten, das bereits normal ist, etwas, das man schon tausendmal erfahren hat und auch bewältigen konnte? Unbeschwert und leicht stelle ich mir das vor. Darauf geschissen. Gerne würde ich mitscheißen. Hätte ich es doch von Anfang an getan, jetzt kann ich mich nicht mehr