Weltschmerz und Wahnsinn. Magdalena Ungersbäck

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Название Weltschmerz und Wahnsinn
Автор произведения Magdalena Ungersbäck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077695



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Monatlich, wöchentlich, täglich. Und natürlich kann ich das ertragen, lasse es nicht zu nah an mich heran, sonst wäre ich wohl nicht fähig, Arzt zu sein. Das ist ein Kinderspiel geworden. Trotzdem begreife ich die Ungerechtigkeit der Welt nicht, verstehe ich nicht, warum das Menschsein weh tun muss. Plötzlich bemerke ich, wie meine Schritte immer schneller werden und wie sich die Kälte des Windes durch meinen Körper frisst. Immer wenn ich in Gedanken bin, fange ich unbewusst zu rennen an. Ich laufe und laufe, laufe vielleicht vor meinen eigenen Gedanken davon. So schnell wie jetzt bin ich diesen Weg noch nie gegangen. Ich sehe schon das Haus meiner Familie, schlucke schwer angesichts der Erwartung, dass mich meine Mutter nicht nur auf mein jetziges Leben in Rom ansprechen wird, sondern auch auf die Zeit davor und wie froh sie ist, dass diese Zeit vorbei ist. Es wird immer wieder angesprochen, immer und immer wieder. Denn am Höhepunkt der Flüchtlingskrise fühlte ich mich gebraucht, fühlte ich mich verpflichtet, nicht nur auf der Seite zu stehen und zu glotzen. Ich fuhr die letzten Jahre nur von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager und versuchte den Schmerz der Geflohenen ein bisschen zu lindern. Auch sie brauchten Ärzte, wenn sie krank waren, und krank waren sie oft. Gebrochene Menschen werden leichter krank. Mit meiner Familie darüber reden: Das will ich aber nicht, kann ich einfach nicht. Ich will nicht ständig daran erinnert werden, an diese Bilder, die niemals verschwinden werden. Natürlich bereue ich keinen einzigen Tag, den ich den geflüchteten Menschen gewidmet habe, aber mir scheint, dass ihr ganzer Schmerz sich auf mich übertragen hat. Die Angst vor einer unsicheren Zukunft, die Angst vor dem bereits Erlebten: Man konnte sie förmlich spüren, jedes Mal, wenn man ihre dünnen Beine und knochigen Arme berührte. Als sie alle in diesen Zelten zusammengepfercht kauerten und ich mich durch sie hindurchschlängelte, von einem Kranken zum anderen, lag pure Verzweiflung in der Luft. Wie ungewollt und ungeliebt sie sich fühlen mussten, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Es tat so furchtbar weh. Irgendwann hatte ich genug von Flüchtlingslagern und ertrug diese überfüllten, verschmutzten und überschwemmten Zelte und Container nicht mehr, doch das Verlangen, zu helfen und etwas zu ändern, blieb. So fuhr ich von Hafen zu Hafen. Dort durften NGO-Rettungsschiffe nicht mehr anlegen, denn diejenigen mit der Macht in der Hand, diese „Menschenfreunde“, hatten es verboten. Sollen die Ausländer doch auf diesen Booten verrecken! Hätten sie es doch nicht gewagt, sich nach Europa zu begeben. Wir brauchen keine Flüchtlinge. Es ist ihre eigene Schuld.

      Wie grausam Menschen sein können. Würden unsere werten Menschenfreunde immer noch so reden, wenn sie selbst einmal auf diesen Booten stünden? Wenn sie das sähen, was ich gesehen hatte? Was hatte ich denn gesehen? Als ich so an den Häfen stand und auf die Ruhe und Weite des Meeres blickte, verloren dort draußen Menschen ihren Verstand. Sie badeten in Angst auf den Schiffen, die nicht anlegen durften. Die See war ruhig, die Wellen waren leicht und das Plätschern zart. Auf den ersten Blick sah man nichts als ein friedliches Schiff. Doch dieser Friede war Illusion und bloßer Trug, das Schiff wurde von reinster Panik überflutet, die man vom Ufer nicht sah, nicht einmal spürte. Die heile Welt schien echt. Doch die, die noch nicht selbst ertrunken waren, ertränkten dort ihre letzte Hoffnung. Platzangst, Seekrankheit, Ungewissheit. So brachte man mich auf diese Schiffe. Ich sah, wie die Flüchtlinge durchdrehten und sich gegenseitig zu hassen begannen, weil sie schon zu lange auf zu engem Platz aufeinander klebten. Es war heiß und eng. Ich schwitzte wohl mehr Schweiß, als Wasser im Meer war, und ihre Seelen schienen dahinzusiechen. Sie drehten durch und erschlugen sich fast. Sie sprangen von der Reling und wollten ans Ufer schwimmen. Sie wollten endlich ihren Frieden, der nirgends in Sicht war, finden. Ich half dabei, die Ausreißer aus dem Meer zu fischen und zurück auf das Boot zu holen, verband Wunden und spritzte hie und da ein Beruhigungsmittel, wenn man mich darum bat, wenn die leeren Augen mich wirr und fast irr ansahen. Doch das, was mich bis heute verfolgt, was mich nicht mehr loslässt, was ich niemals vergessen werde, sind die großen, dunklen Kinderaugen, die mich voller Angst und Traurigkeit und doch gnadenlos anstarrten, die sich unter Tränen winselnd windeten und sich in den dunklen, muffigen Ecken der Schiffe nach einer sicheren Heimat sehnten. Kinder, denen dieses große „Warum“ auf der Zunge brannte. Die den Wahnsinn um jede Ecke lugen sahen. Auch wenn die Flüchtlingskrise noch nicht zu Ende ist und wohl auch so bald kein Ende nehmen wird, habe ich vor kurzem mit trauriger Erkenntnis eingesehen, dass ich nicht mehr helfen kann. Ich habe getan, was ich konnte. Mehrere Jahre lang. Es ist genug, für mich ist es vorbei. Nur wenige verstehen, warum ich mir das überhaupt angetan habe. Mein Vater sagte damals, ich sei ein „Gutmensch“, meine Mutter war stolz. Ich will einfach vergessen. Deshalb wohne ich nun in Rom, in einer bezaubernden Wohnung und arbeite als Arzt in einem hervorragenden Krankenhaus – in der Hoffnung, keinem zu begegnen, der mich darauf ansprechen kann, der den Menschen kennt, der ich einst war. Damit ich in mich hineinschweigen kann. Plötzlich stehe ich vor unserem Haus; ich habe gar nicht realisiert, wie schnell und gedankenverloren ich durch Bergamo gegangen bin. Ich atme aus, puste mühevoll die Gedanken davon und schließe die Haustür auf. Dieser vertraute Geruch und diese vertrauten Stimmen kommen mir entgegen und bringen mich unverhofft zum Lächeln, auch wenn es ein müdes Lächeln ist.

      Ling

      44 Jahre, Peking, China

      20. November 2019

      Mein Handy hat vibriert und ich habe es ignoriert. Obwohl es auf dem Tisch liegt, direkt neben mir. Obwohl ich gesehen habe, dass es Xiaolong war, mein Mann. Ich sitze, wie fast jeden Tag, hier im Büro als Sekretärin einer Modefirma. Der Raum ist riesig, fast eine Halle, und nebeneinander stehen gefühlt Tausende Schreibtische mit Tausenden Computern. Und unter diesen Tausenden Menschen, die hier arbeiten, sitze ich unbemerkt da, starre auf meine Tastatur und ignoriere meinen Mann. Ich weiß doch, was er mir sagen will. Ich könne ruhig Überstunden machen, ich solle mich brav von allen verabschieden, wenn ich nach Hause gehe, ich müsse aufmerksam die Straßenverkehrsregeln beachten, wenn ich zur U-Bahn eile und dürfe dort auch keine Auffälligkeiten von mir geben. Er bläut mir dies schon seit Ewigkeiten ein und natürlich habe ich es immer fügsam befolgt. Nur die Überstunden nicht. Auf die verzichte ich. Wie auch heute. Ich will nach Hause. Zu meinem Kind, zu meinem Bett und auch ein bisschen zu meinem Mann. Ein bisschen. Ich schalte den Computer aus, erhasche mein angespanntes Gesicht auf dem schwarzen Bildschirm, stehe auf, sage brav zu allen „bis morgen“ und mache mich auf den Weg nach Hause. Es ist schon fast dunkel und ich will mich beeilen, aber nicht zu sehr, denn dann wäre ich auffällig und unaufmerksam und würde vielleicht einen Fehler machen. Bei Rot über die Straße laufen oder jemanden anrempeln. Das wäre fatal. Vorsichtig hebe ich den Blick. An jeder Straßenecke sind Kameras, die sofort wissen, wer ich bin, sobald sie mich eingefangen haben. Eigentlich leben wir in einer totalüberwachten Welt. Aber das ist auch nicht weiter schlimm, ich habe nichts dagegen. Es ist sogar gut, es verspricht Sicherheit. Sicherheit für uns alle, wenn sie sehen, was wir tun. Sicherheit sollte man vor Freiheit stellen, nicht wahr? Das ist vernünftig und vernünftig sollten wir sein. Dann können Kriminelle sofort identifiziert und verhaftet werden. Gut, ich bin dafür. Ich eile durch Peking, das am Abend immer schriller und bunter wird, Tausende Geräusche und blinkende Lichter prasseln auf mich herab. Zügig husche ich durch die U-Bahn-Stationen und die Wohngassen, bis ich unsere Wohnung erreiche. Die schwere Eingangstür des Gebäudes aufgemacht – die Stiegen hinauf, die bis in die Unendlichkeit zu führen scheinen – den Schlüssel in die Wohnungstür – drehen – Knack – und offen. Ich trete ein und sehe Xiaolong am Küchentisch sitzen, den Kopf über eine Zeitung gebeugt.

      „Hallo, da bin ich!“

      „Hallo Ling, sieh da!“ Er winkt mich gleich zu sich und trommelt auf die Zeitung: „Das scheint die perfekte Wohnung zu sein!“

      Ich beuge mich zu ihm, betrachte das Bild und den Preis und sage: „Ja, perfekt.“

      Wir wollen nach Shanghai ziehen, brauchen dort eine schöne Wohnung. Eine schönere als jetzt. Und eine größere. Xiaolong hat nämlich ein Jobangebot dort erhalten. Er will es annehmen, denn dann ist er bedeutender als jetzt. Kein gewöhnlicher Polizist mehr, nein, ein richtig einflussreicher Polizist, so sagt er.

      Er schlägt die Zeitung zu und mustert mich.

      „Du hast nicht abgehoben.“

      „Ich wusste doch, was du mir sagen willst.“

      „Gut.“ Er stockt, dann holt er nochmals aus: „Ling, es ist wirklich