Weltschmerz und Wahnsinn. Magdalena Ungersbäck

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Название Weltschmerz und Wahnsinn
Автор произведения Magdalena Ungersbäck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077695



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      Amira

      17 Jahre, Bad Ischl, Österreich

      9. November 2019

      Sie sagen alle, mit siebzehn Jahren, da hat man noch Kraft und Energie, mit siebzehn Jahren, da ist man glücklich, hat Träume und Hoffnungen. Das ist die beste Zeit im Leben, sagen sie. Doch wie es wirklich ist, das Siebzehn-Sein in diesen Tagen, das wissen nur die Siebzehnjährigen ganz allein. Ich bin eine von ihnen und „die beste Zeit im Leben“ stelle ich mir wahrlich anders vor. Ich sitze regungslos da und das Flimmern des Fernsehers scheint die einzige Lichtquelle an diesem tristen Tag, der in schweren Nebel gehüllt ist. Der Reihe nach führe ich mir Dokumentationen und Shows zu Gemüte, die heute das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls feiern. Wie glücklich die Deutschen wirken, voller Lebensmut und Feierlaune, und ich freue mich mit ihnen, auch wenn es mir egal sein könnte. Doch dann fällt mir wieder ein, dass ich überhaupt keine Zeit zum Freuen habe. Mein Inneres krampft sich nervös zusammen. Denn es ist ja November, der Monat, in dem jeder Lehrer das dringende Bedürfnis verspürt, uns mit zigtausend Schularbeiten, Tests und Referaten überschütten zu müssen. Bildung ist schließlich wichtig. Bildung ist alles. Ohne Bildung bist du nichts. Du musst doch wissen, dass Triosephosphatisomerase als katalytisch perfektes Enzym gilt und wie man die Elektronegativität einer Atombindung bestimmt, denn das wird dir auch im Leben weiterhelfen. Bestimmt. Übermorgen, nach dem Test, werde ich nicht mehr darüber nachdenken, spätestens in einem Jahr kann ich mich nicht mehr erinnern, jemals davon gehört zu haben und in fünf Jahren kann ich diese Wörter nicht einmal mehr aussprechen. Nicht einmal nach hundert Versuchen. Aber hört, hört! Bildung, Bildung! Man kann doch nie genug gebildet sein! Jedoch Wissen allein zählt auch nicht viel. Gegen Wissen ist nichts einzuwenden, ich weiß gerne viel. Doch dieses schöne Wissen muss tagtäglich bewiesen werden, sonst nützt es nicht viel. Leistungen bringen, das ist wichtig. Ständig und bedingungslos abliefern, das erwartet man von dir. Auch wenn du bis dahin wie ein Genie behandelt wirst: Sobald du auch nur in einem einzigen Unterrichtsfach versagst, wird dir nur dieser eine Misserfolg vor Augen gehalten, wird dir dein Versagen auf einem Silbertablett serviert. Stellt euch vor, ich kann auch einmal etwas nicht! Schande, unerträgliche Schande! Alles zielt auf ein Ereignis ab, die ganze Schikane bereitet uns mit gutem Willen auf die Matura vor. Die Matura, allein die Aussprache dieses Wortes muss dich in tiefe Ehrfurcht sinken lassen. Schon als ich vierzehn war, haben uns die Lehrer in reinste Panik versetzt mit diesem Wort. Jede einzelne Stunde fiel es mit donnernder Wucht über uns nieder, denn sie wollten uns Angst machen, damit wir alles geben, von Anfang bis zum Schluss. Damit am Ende nicht sie als Versager dastehen, damit sie ihre eigene Leistung vollbringen. Ohne Matura kommt man nicht weit, ohne Matura wird man nie etwas Großartiges, Weltbewegendes erreichen, hört man indirekt und doch so deutlich. Alles, was sie aus ihren Mündern speien, sind „Leistung“ und „Druck“. Wo soll das hinführen? Was erwartet man sich davon? Millionen gut gebildete Menschen, die auf Hochleistung laufen, um dem Versagen zu entkommen. Menschen, die nur nach Anerkennung lechzen und sich zu Tode schinden, um den Erfolg zu ergreifen. Schwäche ist schändlich, emotionale Intelligenz ist bloß ein Wort. Erfolgreich und todunglücklich, wenn alles gut geht – so stelle ich mir mein vorbestimmtes Leben vor. Und natürlich lässt sich leicht denken: „Übertreib doch nicht, so schlimm wird es schon nicht sein!“ Doch tagtäglich diese stoßende, penetrante Hand im Rücken zu spüren, die dich immer weiter nach vorne drückt, selbst wenn du eine Pause brauchst, um Luft zu holen, die mit Angst auf dich einprügelt, wenn du dich dem Wahn entziehst und dir die Pause einfach nimmst: Davon verstehen die, die das nicht ertragen müssen, nichts. Die Leiden eines jungen Menschen werden mit einer kleinen Handbewegung und einem verständnislosen Schnauben weggefegt.

      „Stell dich nicht so an, Amira! Steigere dich nicht so hinein!“

      „Du bist so ernst, schau doch nicht immer so indigniert!“

      „Was ist los mit dir? Du bist zu nichts zu gebrauchen!“

      „Du bist so langweilig! Du bist doch noch jung, wie soll das noch mit dir weitergehen!“

      „In deinem Alter wollte ich was erleben!“

      Danke, vielen Dank. Ich will doch selbst gern etwas erleben, einfach Mensch sein. Tollpatschig und voller Fehler. Aber die Bildung, diese unersetzliche Bildung, von der ich noch nicht genug habe, zwingt mich jahrelang in einem dunklen Raum zu sitzen, nur mit Büchern, Heften und einem Laptop. Und ich lasse mich zwingen, ich bin eine dieser Unglücklichen, die sich dazu zwingen lässt, damit ich die Leistung erbringe, die man von mir erwartet. Die dunkle Hand im Rücken stößt mich weiter und weiter und ich gebe ihr nach. Ist es da verwunderlich, dass ich so lustlos schaue, dass ich kraftlos und langweilig bin? Ich stehe auf, beende das Flimmern des Fernsehers und somit auch das letzte freudige Licht im Haus. Schließlich habe ich keine Zeit, mich der Freude hinzugeben, schließlich spüre ich wieder den festen Handabdruck in meinem Rücken. So schleiche ich in mein Zimmer, wohin mich die Hand schiebt, wo die heulenden Bücher und Hefte liegen. Auf dem Weg bleibe ich kurz vor dem großen, langen Spiegel stehen, der den Gang schmückt und starre mich an, erkenne mich gar nicht wieder. Meine schwarzen Haare werden stumpf, die grünblauen Augen verlieren das aufgeregte Leuchten und die eigentlich so braune Haut wird unnatürlich blass. Doch ich werde mich nicht laut darüber beschweren. Ich schreie. Ich schreie leise. In meinem Inneren. Denn ich weiß, sobald ich meinen Schmerz laut in Worte fassen würde, wäre Verständnis das Letzte, das mich erreichen würde. Wütende, genervte Blicke träfen mich. „Du musst doch nicht in die Schule, dann geh doch arbeiten!“, höre ich sie schon fauchen. Wenn es doch so einfach wäre! Ist es nicht egal, wohin ich gehe, ob Schule oder Arbeit? Die dunkle, drückende Hand im Rücken wird mich überallhin verfolgen. Durch die gesamte Welt. Weil ich mich verfolgen lasse, weil ich mich nicht dagegen wehren kann, sie nicht einfach wegschlage. Es ist meine Schuld.

      Ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Ich bin das Wrack meiner Seele. Obwohl ich doch erst siebzehn Jahre alt bin.

      Antonio

      32 Jahre, Bergamo, Italien

      11. November 2019

      Ich schlurfe durch die graue Stadt und merke, wie vertraut Bergamo mir ist. Ich hatte es schon fast vergessen, zu lang bin ich nicht mehr hier gewesen. Und trotz des vertrauten Gefühls von Heimat und von Ruhe füllt sich die Leere in meinem Inneren nicht. Ich hatte die Hoffnung, dass die stille Verzweiflung, die tagtäglich meine Kehle zuschnürt, verschwinden würde, wenn ich einmal hier bin. Vergebens. Es ist wohl sinnlos. Ich gehe weiter, betrachte hin und wieder meinen dicken Schal und meine dunkelblaue Jacke in den Fensterscheiben der funkelnden Geschäfte, an denen ich vorbeigehe. Blicke auf mein eingefallenes Gesicht und auf die tiefen Ringe unter den Augen vermeide ich dagegen. Ich hasse Herbst und Winter. Ich hasse diese grauenhafte Kälte, die sich bis in meine Knochen frisst. Immer ist es grau und nebelig – meine Stimmung verschmilzt mit dem Wetter. Ich kann nicht ausgeglichen oder gar glücklich sein bei dieser endlosen Nässe. Was bin ich bloß für ein Sensibelchen? Ich bin auf dem Weg zu meinen Eltern und zu meinem Bruder, zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich sollte mich doch freuen, gleich von meiner Mutter aus Überschwang fast zerquetscht zu werden, den vertrauten Handschlag meines Bruders Giorgio zu spüren und das wohlwollende Lächeln meines Vaters zu erhalten. Doch all das fühlt sich so endlos weit weg an. Ich fühle mich von allem und jedem schrecklich entfernt. Als wäre ich immer abwesend und befände mich in meiner eigenen Welt aus bedrückenden Gedanken. Sobald ich unser Haus betreten werde, wird mich meine Mutter mit Fragen bombardieren. Sie wird fragen, wie es mir in Rom gefällt, wo genau meine Wohnung liegt und wie vielen Menschen ich schon wieder das Leben gerettet habe, seitdem ich Arzt im Hospital of the Holy Spirit geworden bin. Ich werde wohlwollend lächeln und sagen, dass es wunderschön in Rom sei, dass meine Wohnung eine Traumwohnung sei und mein Beruf mich erfülle. Das ist ja wohl auch die Wahrheit. Es scheint doch alles perfekt zu sein. Doch warum fühle ich mich so leer und verloren? Vielleicht weil ich das Leid der Menschen nicht vergessen kann und weil dieses Leid niemand lindern kann. Als Arzt will ich Menschen helfen