Название | Kopf über Wasser |
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Автор произведения | Wolfgang Millendorfer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903184893 |
2.
Am Nachmittag brauchen dann alle Abstand, und den suchen sie über das gesamte Gebäude verstreut. Marina Antl lässt das Geschäft für eine Stunde ruhen und legt sich in die Dienstwohnung – eine Küche, ein WC und ein kleines Zimmer, das sie mittlerweile genau nach ihren Vorstellungen eingerichtet hat (man weiß ja nie). Dort fällt sie in ihr Bett, liest ein paar Seiten oder sieht eine sinnlose Sendung an, bis sie einschläft. Die Dienstwohnung liegt über dem Technikraum, und an das Brummen und Poltern hat sich Marina langsam und schließlich ganz gewöhnt. Das hilft ihr sogar beim Einschlafen.
Werner Antl ist am frühen Nachmittag auch gerne allein im Büro. Er stellt seine Hausschuhe ab, zieht die Socken aus und wartet, bis das Mittagessen wirkt. Er drückt die Knöpfe, sitzt vor zwölf kleinen Bildschirmen und sieht sich die Übertragung der Überwachungskameras an, die er vor einigen Jahren in den interessantesten Ecken des Hallenbads hat installieren lassen.
Kamera 1 – Eingang außen
Kamera 2 – Eingangshalle
Kamera 3 – Schwimmbad
Kamera 4 – Gang
Kamera 5 – Umkleidekabinen Herren
Kamera 6 – Umkleidekabinen Damen
Kamera 7 – Gang
Kamera 8 – Eingang Kantine
Kamera 9 – Eingang Sauna
Kamera 10 – Sauna
Kamera 11 – Keller / Gang
Kamera 12 – Technikraum
Werner kennt all die anderen besser als sie sich selbst, denn er weiß, was sie tun, wenn sie allein sind.
Kamera 1 – Eingang außen
Vor der Tür sitzen manchmal Jugendliche und rauchen, vielleicht weil sie glauben, dass sie dort keinesfalls erwischt werden. Heute, Dienstag, kurz nach 2, sind die Stiegen aber leer. Keiner kommt, keiner geht, kein Auto bleibt stehen. Werner könnte diesen Bildschirm genauso gut ausschalten.
Kamera 2 – Eingangshalle
Die unnötigste Überwachungskamera ist trotzdem Kamera 2, denn alles, was in der Eingangshalle passiert, kann man auch durch das riesige Panoramafenster vom Büro aus sehen. Der Vollständigkeit halber läuft Kamera 2 aber. Die Übertragung ist meist spannender als der Blick durch das Fenster. Es ist immer aufregend, über einen Bildschirm live dabei zu sein.
Rose Antl geht durch die Halle, die eigentlich nur ein größerer Raum ist. Verzogener Teppich, verschobener Tisch – Rose gibt ihm mit dem Fuß einen Stoß, und er steht noch verschobener da. Werner lächelt. Sogar wenn sie nicht weiß, dass sie beobachtet wird, rebelliert sie. Rose nimmt ihren Platz hinter der Kassa ein und zählt das Schülergeld vom Vormittag. Werner beugt sich vor zum Bildschirm und beißt in seinen Daumen. Sie steckt nichts ein. »Gutes Mädchen«, sagt er. Während sie das Geld zurück in die Kasse legt, dreht sie der Kamera den Rücken zu und das verdeckt Werner die Sicht. Es dauert viel zu lange, bis Rose sich wieder umdreht und die Kassenlade schließt. »Dieses kleine Luder …«
Kamera 3 – Schwimmbad
Nach dem Mittagessen ist Fred immer am motiviertesten. Lange hält es ihn nicht auf seinem Plastiksessel. Er ist gewissermaßen allein, kein Mensch schwimmt um diese Zeit, heute nicht. Der alte Nazi ist zwar noch da, aber nach dem Essen muss er schlafen, dieses Bild kennt Werner – den alten Nazi (Werner selbst nennt ihn nicht so, er weiß, dass er Hermann heißt) am oberen Bildschirmrand, auf der Liege, mit dem Handtuch über dem Kopf.
Fred springt plötzlich aus seinem Sessel auf. Auch das kennt Werner, das ist die Nachmittagsvorstellung. Fred beginnt langsam mit den Beinen zu wippen, er tänzelt, dann tanzt er los. Über den feuchten Fliesenboden bewegt er sich in Zeitlupe rückwärts, ohne dass seine Füße den Kontakt zum Boden verlieren. Moonwalk nennt er das; er hat Werner erzählt, dass er den erfunden hat. »Das stimmt nicht.« – »Oh doch!«, hat er gerufen. »Moonwalk, Moonwalk …« Und dabei ist er immer weiter rückwärtsgelaufen, wie auf Schienen, bis er durch die Tür und auf dem Gang draußen war. Dass Fred seine Lippen bewegt, sieht Werner jetzt auch auf dem Bildschirm. Sieht aus, als ob er singt. »Moonwalk, Moonwalk, Moonwalk …« Die Kamera überträgt nur das Bild und keinen Ton. Und außer dem Wasser gäbe es überhaupt nichts zu hören, denn Fred singt sein Lied tonlos, um den alten Nazi nicht zu wecken. Mit dem macht er sich lieber einen Spaß, tanzt rechts aus dem Bild und kommt am oberen Bildschirmrand wieder raus, singt lautlos »Moonwalk« und gleitet in Zeitlupe rückwärts am alten Nazi auf seiner Liege vorbei, ohne dass seine Füße den Kontakt zum Boden verlieren. Fred wäre wohl ein guter Tänzer, denkt Werner, wäre er nicht so hoffnungslos in diesem Schwimmbad gefangen.
Kamera 4 – Gang
Es ist nur ein Gang, sagt sich Werner und sieht kurz zu Bildschirm 4 hin. Eine Tür links, zwei Türen rechts, weiße Wände und am Ende kommen die Umkleidekabinen. Niemand ist zu sehen. Natürlich nicht. Gott sei Dank.
Kamera 5 – Umkleidekabinen Herren
Kamera 6 – Umkleidekabinen Damen
Die Kameras in der Herren-Umkleide und in der durch eine dünne Wand getrennten, spiegelverkehrten Damen-Umkleide sind so ausgerichtet, dass die beiden Bildschirme nur eine Reihe von Kabinentüren und Kästchen zeigen und keiner sich beim Umziehen beobachtet fühlen müsste. Werner und auch Marina würden das nicht so eng sehen, die Behörden aber schon.
Selbst wenn wenig Betrieb ist, liegt oder hängt immer irgendwo ein vergessenes Handtuch herum. Das ist auch heute so. Im Keller gibt es einen Raum, der ausnahmslos mit vergessenen Handtüchern, Badehosen, Badeanzügen, Unterhosen und Socken gefüllt ist. Auch dort wird der Platz schon eng, denn nach den Sachen sucht keiner mehr. In der Damen- und in der Herren-Umkleide stehen alle Kästchen bis auf eines offen – mit einem Blick weiß Werner somit, dass nur der alte Nazi, also Hermann, im Schwimmbad ist, denn der nimmt alles in einer Tasche mit, die er dann unter seiner Liege versteckt.
Kamera 7 – Gang
Diesen Gang mag Werner lieber. Er ist hell, in freundlichem Gelb gestrichen und führt von den Umkleidekabinen direkt ins Schwimmbad. Wenn viel los ist, ist hier am meisten los. Die Kinder laufen zwischen Bad und Kabinen herum und die Erwachsenen warten auf den Aufzug, der sie ein Stockwerk tiefer in die Sauna bringt.
Um die Ecke kommt Robert Anker und beendet seinen Verdauungsspaziergang durchs Bad, auf dem er nach dem Mittagsmenü besteht. Er drückt den Aufzugknopf, zieht am Handtuch und beendet seinen Spaziergang nackt, wie sich das aus seiner Sicht gehört. Im Aufzug gibt es keine Kamera, das sei technisch nicht möglich, hat man Werner gesagt.
Kamera 8 – Eingang Kantine
Lange Zeit die umstrittenste Kamera. Werner hat sie an einem denkwürdigen Abend in einem harten Kartenspiel gegen Bella erkämpft, und trotzdem wirft Bella noch heute mit Bierstoppeln oder Brotscheiben danach, wenn sie einen schlechten Tag hat. Wäre es nach Werner gegangen, dann würde er auf einem seiner Bildschirme jetzt auch sehen, was hinter der Kantinentür vor sich geht; aber mehr war nicht drinnen: Bella ist eine brutale Kartenspielerin und auch im Verhandeln gnadenlos.
Dennoch hat Bildschirm 8 einiges zu bieten, die Tür zur Kantine geht laufend auf und zu. Das liegt zum einen daran, dass das Klo draußen in der Eingangshalle ist, das bringt reichlich Bewegung. Zum anderen tauchen neben den immer gleichen immer wieder auch neue Gesichter auf, die zumindest bis zum ersten Klobesuch bleiben. Und im Grunde ist Werner froh darüber, dass er nicht sieht, was in der Kantine so alles los ist – wenn er beobachtet,