Pias Labyrinth. Adriana Stern

Читать онлайн.
Название Pias Labyrinth
Автор произведения Adriana Stern
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783867549981



Скачать книгу

Abend überfallen. Außerdem hat sie sich fest vorgenommen, nur Andrea und Nesè zu erzählen, weshalb sie in dieses Internat gekommen ist. Ganz schlecht wird Pia bei dem Gedanken. Sie will auf keinen Fall, dass diese Geschichte das Erste ist, was Phil von ihr erfährt.

      »Pia, was ist? Träumst du?« Zwei Augenpaare mustern sie gespannt.

      »Oh nein, ’tschuldigung.« Pia schüttelt die Gedanken an Phil ab. »Alles, was wir uns hier erzählen, bleibt unter uns, ja?«

      »Na, das ist doch wohl klar.« Fast empört sieht Nesè Pia an.

      »Logo, versprochen«, sagt Andrea.

      »Und? Wo soll ich anfangen? Damit, wie ich hergekommen bin, oder damit, wie ich von hier wegkam?« Pia grinst etwas schief. Komische Zusammenfassung meiner Geschichte, denkt sie.

      »Am Anfang«, entscheidet Andrea, und Nesè nickt.

       September 1993

      Mathematik ist ganz einfach. Die Zahlen tanzen einen wilden Reigen auf den Rechenkästchen. Rechnen ist wie zaubern, denkt Pia fasziniert, wie neue Welten erfinden. Das Tolle ist, dass es dabei feste Regeln gibt, die keiner, keiner einfach umwirft.

      In der neuen Klasse kennt Pia noch niemanden. Das ist das einzig wirklich Traurige an ihrem Klassensprung. Zu gerne wäre sie weiter mit Lotte und Sophia in eine Klasse gegangen. Und mit Max. Wenn es dort nur nicht so schrecklich langweilig gewesen wäre.

      Jetzt ist sie mit zehn Jahren schon in der sechsten Klasse, und die anderen Kinder sind mindestens ein Jahr älter. Das schüchtert Pia ein. Bei ihren ersten Arbeiten hatte sie großes Herzklopfen. Sie ist nicht mehr die Beste, aber keine Arbeit ist bisher schlechter als Drei. Englisch ist am schwersten, da fehlt ihr das erste Jahr. Aber sie liebt fremde Sprachen. Am liebsten will sie ab dem nächsten Jahr auch noch Spanisch lernen. Sprachen und Mathematik – das sind ihre Steckenpferde. Die Mathearbeit findet Pia superleicht. Sie will unbedingt studieren. Das wusste sie schon mit sechs. Bloß nicht so wie Mama leben, die nur zu Hause herumsitzt und auf die Kinder aufpasst, und auch nicht wie Papa, der jeden Tag in die Fabrik und danach in die Kneipe geht. Und Mama muss dann jeden Pfennig umdrehen, weil Papa den halben Lohn versäuft.

      »Pia, kommst du bitte mit mir.«

      Sie sieht erschrocken hoch. Wieso steht denn der Direktor vor ihr? »Ich schreibe gerade eine Mathematikarbeit.« Hilfesuchend sieht sie ihre Lehrerin an.

      »Das ist schon in Ordnung. Du kannst deine Arbeit morgen zu Ende schreiben.«

      Was geht hier vor? Krampfhaft überlegt sie, was sie angestellt haben könnte. Zum Direx muss man nicht ohne Grund. Ängstlich folgt sie ihm den langen Schulflur entlang.

      Eigentlich wirkt er nicht wütend. Im Gegenteil, seine Stimme klingt ganz ruhig. Pia hat das Gefühl, ein Riesenwasserfall dröhnt an ihren Ohren vorbei. Sie versteht kein Wort von dem, was der Direktor erzählt. Sie war erst einmal bei ihm. Als sie die Klasse überspringen durfte. Auch da war er ausgesprochen nett zu ihr. Er wird sie doch heute nicht noch eine Klasse überspringen lassen?

      »Komm herein, Pia.« Im Zimmer des Direktors sitzen schon einige Leute, und Pia sieht ihn fragend an.

      »Das ist Frau Geritz vom Jugendamt, und das sind Polizeioberkommissar Benz und Frau Hauptkommissarin Gutenberg. Setz dich doch.«

      Pia wird schwindelig. Jugendamt? Polizei? Oh Gott. Mechanisch setzt sie sich auf den hingeschobenen Stuhl.

      »Wir sind hier, weil wir dir sagen wollen …« Die Stimme von Frau Geritz verliert sich irgendwo auf dem Weg zu Pia. »Dein Vater …« Wieder bricht ihre Stimme ab.

      »Wir mussten deinen Vater heute Morgen verhaften, Kind«, sagt nun der Polizist.

      Was? Sie haben Papa mitgenommen? Das muss ein Irrtum sein. »Nein.« Sie schüttelt heftig den Kopf.

      »Hör zu, wir möchten dich von einer Ärztin untersuchen lassen. Frau Geritz wird bei dir sein, und dir wird nichts passieren.«

      Pia schreit. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Niemand wird sie von der Schule wegschleppen.

      Sie geht einige Schritte auf den Direktor zu, der bleich hinter seinem Schreibtisch sitzt. Er sieht weg, als Pia vor ihm steht. »Herr Direktor«, flüstert sie.

      »Pia, bitte«, sagt er tonlos. »Bitte geh mit. Es ist wichtig.«

      »Und morgen darf ich meine Mathematikarbeit zu Ende schreiben?« Das ist gar nicht echt. Nur ein Spiel, sagt sich Pia verzweifelt.

      »Ja, natürlich. Du hast doch gar nichts getan.« Jetzt sieht der Direktor sie doch an. »Geh heute mit, Pia, und morgen sehen wir uns wieder. Versprochen.« Er lächelt sogar, und Pias Herz beruhigt sich langsam.

      Die Ärztin stellt fest, worüber Pia niemals sprechen wollte. Nur einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch als sie anfing zu weinen und den Finger auf ihre Lippen legte, schwieg Pia. Der Schmerz in ihren Augen war zu entsetzlich. Die Mutter wollte es nicht wissen.

      »Dein Vater, er hat dir Gewalt angetan.« Die Stimme der Ärztin klingt bestürzt und ein bisschen wütend.

      »Nein«, stammelt Pia. »Das ist nicht so schlimm. Wirklich. Papa soll nicht gehen.«

      »Er muss gehen. So etwas darf ein Vater nicht tun.« Die Augen der Ärztin sind gütig.

      Pia weiß nicht, was sie sagen soll. »Ich habe das niemandem erzählt«, flüstert sie plötzlich, und eine dicke Träne fällt auf ihre Jeans.

      »Ich weiß«, antwortet die Ärztin, »du hast es nicht erzählt. Aber zwei andere Mädchen haben ihren Eltern erzählt, dass dein Vater auch ihnen Gewalt angetan hat. Die Eltern der beiden haben deinen Vater angezeigt.«

      »Welche Mädchen?«, fragt Pia, obwohl sie die Antwort schon weiß.

      »Lotte Andrews und Sophia Berg …« Pia rast einen Abgrund hinunter. Es wird schwarz um sie und sie stürzt, stürzt, stürzt.

      Pia wird krank. Die Mathematikarbeit schreibt sie nie zu Ende. Drei Wochen liegt sie zu Hause im Bett. Nur Schweigen um sie, Schweigen und bleischwere Leere. Die Mutter sitzt manchmal stumm bei ihr. Der Vater darf bis zum Prozess zu Hause bleiben. Pia sieht ihn nicht, aber sie hört ihn mit der Mutter reden. Manchmal hört sie die beiden auch nachts. Dann stopft sie schnell ihre Kopfhörer in beide Ohren und hört laut Musik. Dieter, ihr kleiner Bruder, fängt plötzlich an zu stottern und wieder ins Bett zu pinkeln. Dabei ist er schon neun!

      Frau Geritz vom Jugendamt kommt vorbei. Pia geht es noch immer nicht besser. Die Frau spricht lange mit Mama. Und am Abend hat Mama verweinte Augen. Stumm streichelt sie Pias Arm. Immer wieder. »Piaken, et tut mir so Leid. Ach, Piaken.« Das ist alles, was die Mutter sagt.

      Als Frau Geritz das zweite Mal kommt, packt Mama Pias Sachen in einen großen Koffer. Warum? Ihr geht es doch seit einer Woche viel besser! Sie ist auch wieder zur Schule gegangen. Ein bisschen hat sich alles angefühlt wie in einem Traum. Sie fühlt sich befangen in der neuen Klasse. Die Verhaftung des Vaters hat in der Zeitung gestanden. Alle wissen es jetzt, und Pia kommt sich dreckig vor. Sie schämt sich entsetzlich. Sie findet keine Freunde in der Klasse. Auch mit Lotte und Sophia kann sie nicht mehr sprechen. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen ihnen. Immer, wenn ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammenstecken, reden sie bestimmt über sie. Pia fühlt sich nackt. Niemand spricht mit ihr über das, was in der Zeitung steht. Sie hat das Gefühl, alle behandeln sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

      Nicht der Vater ist ins Gefängnis gekommen. Sie ist es, die eingemauert wurde an dem Tag, an dem der Direx sie aus ihrem neuen Klassenzimmer holte.

      »Pia, dat Fräulein vom Jugendamt, dat bringt dich jetzt in ein schönet neuet Zimmer«, sagt die Mutter. »Dat is nich für immer«, fügt sie beschwörend hinzu, als Pia sich entsetzt unter dem Tisch versteckt wie vor vielen, vielen Jahren, wenn sich die Eltern gestritten haben.

      »Mama,