Der Beschützer - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Der Beschützer - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445084



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      Dann erkannte er sie plötzlich wieder. Die kleine Waltraut. Sie war die Schwester von einem der Jungs. Sie war die Schwester von Engen, von Mats Engen.

      Sie hatten daheim bei Mats am Küchentisch gesessen und Eishockey gespielt. Sie hatten weiche Brotscheiben gegessen, die sie zunächst mit Margarine bestrichen und dann mit Zucker und Vogelfutter bestreut hatten. Etwas bewegte sich im Flur, Mats’ Vater stand plötzlich in der Tür. Es knirschte unter seinen Schuhen, er hob einen Fuß und starrte sie an.

      »Was macht ihr denn da?«

      »Nichts, wir machen es uns nur gemütlich.«

      »Habt ihr das Futter der Vögel genommen?«

      Mats wurde ganz rot im Gesicht.

      »Wir wollten das mal probieren ...«

      »Und – schmeckt es gut?«

      »Oh ja?«

      »Dann passt nur auf, dass euch keine Federn am Hintern wachsen!«

      Mats saß da und hielt den Torwartschläger in der Hand, war aber nicht richtig bei der Sache. Franki schoss den Puck.

      »Tor!«, sagte er leise.

      Mats’ Vater sagte:

      »Ich habe Mama abgeholt. Du kannst jetzt kommen und deine kleine Schwester angucken.«

      »Du«, sagte er. Nicht »ihr«. Franki stand dennoch auf. Sie gingen ins Wohnzimmer, die Gardinen waren vorgezogen, kein Licht angeknipst. Mats schaltete die Deckenlampe ein. Da sahen sie seine Mama halb auf dem Sofa liegen, in Mantel und Kopftuch. Sie war verändert, er wusste aber nicht genau, wieso. Auf dem Teppich stand ein hellblauer Babysitz. Mats’ Papa öffnete ihn, kniete sich mit seiner guten Hose hin. Ein leises Piepsen ertönte aus dem Sitz. Franki dachte an die Katzenjungen in der Scheune von Riddersvik.

      Mats’ Papa hob die neugeborene Schwester hoch. Sie war ganz rot im Gesicht, ihre kurzen Arme ruderten.

      »Sie hat wohl Hunger«, erklang es matt vom Sofa.

      Mats’ Papa stand auf, hielt Mats das Kind hin.

      »Das ist deine Schwester«, sagte er. »Das hier ist Waltraut.«

      Was für ein hässlicher Name! Ja, was für ein hässlicher Name.

      Es dauerte eine Weile, bevor er sie wiedersah. Es wurde ihnen gesagt, sie sollten lieber draußen spielen, Mats’ Mama sei müde, und es ginge ihr nicht gut. Manchmal weinte die Schwester, dass es bis auf den Hof hinaus zu hören war.

      Mit der Zeit wurde sie ein hässliches, nerviges Kleinkind, das überall mit dabei sein wollte. Voller roter Flecken im Gesicht. Sie schlichen sich von ihr fort, sperrten sie zu den Schuhen in die Garderobe ein. Sie petzte natürlich, und ihr schmales Gesicht strahlte, wenn ihre Mutter die Jungs ausschimpfte.

      Wann hatte er sie das letzte Mal gesehen? Als sie konfirmiert wurde? Franki konnte sich nicht mehr erinnern. Als erwachsene Frau jedenfalls nicht.

      Er betrachtete sie blinzelnd, sie stand mit halb geschlossenen Augen da. Wie konnte sie nur so hoch singen, wo sie doch so dünn, platt und ohne jegliche Form war. Sängerinnen, die stellte er sich dick und mit Brüsten wie eingezwängte Würste vor.

      Waltraut Engens Hände waren schmal und geballt. Er sah im Gegenlicht ihr Kinn, er sah einige abstehende Haarsträhnen. Als der Chor sang, machte sie eine halbe Drehung und trippelte zu ihrem Stuhl. Mutter deutete auf sie.

      »Hast du sie wieder erkannt?«, flüsterte sie.

      Er nickte mit zusammengekniffenem Mund.

      »Wir hätten vielleicht eine Blume mitnehmen sollen!«

      Die Leute um sie herum warfen ihnen böse Blicke zu. Franki wünschte sich, dass seine Mutter aufhöre zu flüstern, dass sie sich einfach wieder zurücklehnte und die Augen schlösse. Aber sie beugte sich stattdessen nach links vor, um Waltraut sehen zu können. Die junge Frau saß mit dem Gesangbuch auf dem Schoß da. Sie hielt den Kopf gebeugt, schweigend und in sich verschlossen. Er überlegte, dass sie sich sicher auf ihren nächsten Einsatz vorbereitete.

      Er hob den Blick und betrachtete die großen vergoldeten Kronen, die über ihnen hingen, gehalten von fliegenden Engeln. Wie lange schwebten die schon so da? Wie viele Jahre oder Jahrhunderte mit ausgestreckten, stützenden Armen. Er ließ seinen Blick dort oben ruhen, um nicht von der Sängerin verunsichert zu werden, ihre Nähe beunruhigte ihn auf eine vage, bohrende Art.

      Sie hatten sich über ihren Namen gewundert und zunächst Probleme gehabt, ihn auszusprechen. Aber mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt. Sie war nie der Typ von Kind gewesen, der Spitznamen an sich zieht, nein, es blieb bei Waltraut – ohne jede Abkürzung. Mats’ Vater war Opernfan. Er hatte ein ganzes Zimmer nur für die Musik, an den Wänden Samttapete, darin Röhrenverstärker, einen Sessel, dessen Rücken man verstellen konnte. Dort schloss er sich abends ein, blieb stundenlang da drinnen. Aber manchmal öffnete er die Tür und lud ein einzutreten. Niemand wagte Nein zu sagen.

      »Wollt ihr ein wenig mithören, Jungs?«, fragte er und zog sie über die Türschwelle.

      Die Lautsprecher standen in den Ecken. Sie waren groß wie Kindersärge. Er strich über das glatte braune Holzgehäuse.

      »Wollt ihr was hören, Jungs? Wollt ihr wirklich schöne Musik hören?«

      Mit wirklich schöner Musik meinte er Wagner. Den Ritt der Walküren und Rienzi. Sie mussten dort stehen und zuhören. Seine Tochter sollte eines Tages in der Oper singen. Das war so vorherbestimmt, und es stellte sich heraus, dass Waltraut tatsächlich eine ganz reine und gute Stimme hatte. Sie kam in die Musikklasse, danach sahen sie sie kaum noch.

      Es war vorherbestimmt. So war es.

      Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass sie von ihrem Stuhl aufstand und ins Licht trat. Direkt vor ihm stand sie, der Mund glänzte, sah irgendwie klebrig aus. Franki sah, wie sie atmete, Anlauf nahm und die Luft einsog. Sekunden bevor sie anfing zu singen, richtete sie ihren Blick direkt auf ihn. Sie erkannte ihn wieder. Ihm schien, als lache sie.

      3

      Zuerst bekam er den Wagen nicht an, das war ihm noch nie passiert. Die Kraft verließ ihn, die Reservekraft, die ihn den ganzen Morgen über aufrechtgehalten hatte. Er beugte sich über das Armaturenbrett, blieb so eine Weile sitzen. Das Lenkrad drückte ihm gegen den Brustkorb, aber er kümmerte sich nicht darum. Er beugte sich noch weiter vor, als wollte er den harten Kunststoff an seinem Körper spüren, als hielte ihn diese Berührung in der Gegenwart fest.

      Sein Handy klingelte. Es lag neben ihm auf dem Sitz, er hob es hoch und murmelte seinen Namen.

      »Ja, Engen. Mats Engen.«

      Es war Camilla, seine Frau. Sie wunderte sich, warum er nicht kam, sie hatte einen Termin beim Zahnarzt, ob er das vergessen hätte.

      Er wollte nichts am Telefon sagen. Er wollte sie ansehen, wenn er es erzählte, sie nahe bei sich haben, sie sollte ihn in ihre Arme nehmen, und sie sollte weich und groß sein und nach Safran duften.

      »Ich bin schon unterwegs«, sagte er mit belegter Stimme. »Das blöde Auto hat nur verrückt gespielt, es ist nicht angesprungen.«

      »Was?« Sie klang mürrisch. »Wieso das denn? Was ist denn mit dem nun wieder los?«

      »Ich weiß es nicht, Camilla. Ich hoffe, nur eine Lappalie. Aber ich beeile mich, ich kriege das schon hin.«

      »Ja, das hoffe ich doch, denn den Zahnarzt muss ich so oder so bezahlen. Es ist zu spät, noch abzusagen.«

      »Du hörst doch! Ich komme.«

      Er schaltete das Handy ab und öffnete die Autotür. Es war ein Citroën, Jahrgang 1990, der war in all den Jahren, die sie ihn schon hatten, immer wie ein Uhrwerk gelaufen. Nur ein bisschen Rost um die Türen, das war bei französischen Autos nun mal so. Er hatte den Rost weggeschmirgelt und die entsprechenden Stellen ausgebessert.

      Er