Der Beschützer - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Der Beschützer - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445084



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sich den Anschlag mit dem Streckennetz an. Als der Zug anfuhr, machte er ein paar unsichere Schritte und sank auf dem fleckigen Sitz ihr gegenüber nieder. Jemand hatte etwas mit einem schwarzen, dicken Filzschreiber darauf geschmiert.

      Sie betrachtete ihn. Ihre Augenlider waren grün, der Mund gerade und rot.

      »Letzte Woche bin ich mit dem neuen Zug gefahren«, sagte sie mit langsamer, fast eifriger Stimme. »Am Mittwoch war das. Ich wollte in die Stadt. Bist du schon mal mit dem neuen Zug gefahren, Franki, ja?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Aber ich. Das war richtig schön. Es war am Mittwoch, als ich mich mit Mimi getroffen habe. Da bin ich mit einem gefahren. Wie leise der ist. Und so sauber und schön. Und an jeder Haltestelle rufen sie den Namen durch Lautsprecher aus, so deutlich, dass es alle verstehen können. Und vorher kommt immer eine kleine Melodie, das ist einfach schön.«

      »Haben sie euch auch noch was zu trinken angeboten?«, bemerkte er trocken.

      »Nein. Aber es war so eine Art Zugbegleiter dabei.«

      »Ach. Und was hat der gemacht?«

      »Nichts. Stand nur so da. Für die Sicherheit. Falls was passiert, nehme ich an.«

      »War er hübsch? Bist du scharf auf ihn gewesen?«

      »Aber Franki!«

      Er schwieg und starrte aus dem Fenster. Sie kamen gerade an Johannelund vorbei, der einzigen Haltestelle mit dem Bahnsteig auf der anderen Seite.

      Mutter erzählte weiter.

      »Du solltest auch mal mit einem fahren, Franki, dann wirst du schon sehen.«

      »Ja, ja, das werde ich sicher irgendwann mal tun.«

      Sie beugte sich vor, legte einen Finger auf sein Knie. Sie roch gut, ein Frauenduft nach Puder und fetten Cremes.

      »Es ist lieb von dir, dass du mitkommst.«

      Und dann sagte sie noch einmal:

      »Es ist irgendwie so ein erbärmliches Gefühl, wenn man allein kommt.«

      Er hob seine Hand, legte sie auf den pelzgekleideten Arm. Machte Scherze.

      »Obwohl – sehr erbärmlich siehst du nun nicht gerade aus. Das kann man kaum behaupten. Und wenn jetzt so ein militanter Vegetarier kommt und dich mit roter Farbe bespritzt. Was machst du dann?«

      »Ach, das ist doch nur Imitation.«

      »Was für eine Imitation?«

      »Imitierter Pelz. Kunstpelz. Sie hatten ihn im Sonderangebot in einem kleinen Laden in der Drottninggatan. Im letzten Frühling, die wollten wohl ihr Lager räumen. Ich habe ihn für fünfhundertneunundneunzig Kronen gekriegt.«

      »Ach so.«

      »Wovon sollte ich mir denn einen richtigen leisten können? Spinnst du, Junge, der kostet doch mindestens zwanzigtausend.«

      »Auf jeden Fall sieht man das nicht, der sieht ganz echt aus.«

      Sie lächelte ihn an, auf ihren Wangen zeigten sich unzählige kleine, weiche Fältchen.

      Aber plötzlich wurde er ganz unruhig.

      »Geh nur nicht zu nahe an etwas Brennbares. An Kerzen oder so. Wie der aussieht ... Der wird in null Komma nichts in Flammen aufgehen.«

      Wieder lachte sie.

      »Du bist wirklich süß, Franki!«

      Er bekam den Namen Franki, nach Frank Sinatra. Der war das Idol seiner Mutter. Er war noch irgendwie anders getauft worden, aber niemand benutzte den Namen, nicht einmal, als er noch ein Kind war und daheim auf dem Hof in Hässelby spielte. Franki hieß er. Franki ohne ›e‹ am Ende, ins Schwedische übertragen, damit es passte. Das Idol seiner Mutter, ihr Leben lang.

      Er war hoch gewachsen und ein kräftiger Mann, der dick wirken würde, wenn er nicht so viel Zeit mit Bodybuilding verbrächte. Fast alles war groß an ihm, die Ohrläppchen, die Lippen und die gekrümmte Falte zwischen den Augenbrauen. Das Haar trug er kurz, aber nicht rasiert, er war sich seiner Würde wohl bewusst und wollte nicht mit Skinheads oder anderem Gesindel verwechselt werden. Mit dem Abschaum der Gesellschaft.

      Sie stiegen in Gamla stan aus und gingen durch den unterirdischen Gang. Ein Mann mit einer Pudelmütze saß in der Hocke und zupfte an einem Saiteninstrument. Am Aufgang stand ein Typ mit einem Packen Zeitschriften.

      »Situation Stockholm! Unterstützt uns! Kauft die Zeitschrift der Obdachlosen!«

      Das war unangenehm, Franki wusste nie, in welche Richtung er gucken sollte. Die Leute bettelten und drängten sich auf. Sie erzeugten jedes Mal Schuldgefühle bei ihm.

      »Ich bin arbeitslos«, fauchte er manchmal. »Ich habe selbst kaum Geld fürs Essen.«

      Dann starrten sie ihn jedes Mal an, als wären sie es nicht gewohnt, angesprochen zu werden. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und gingen ein paar Schritte weiter.

      Mutter hakte sich bei ihm ein, und sie suchten sich ihren Weg durch die schmalen Gassen zum Stortorget. Er spürte, wie er fror. Ganz intensiv bereute er in diesem Augenblick, mit ihr gegangen zu sein.

      Der Geruch war der gleiche, genau wie er ihn in Erinnerung hatte. Ein Mann im schwarzen Anzug kontrollierte ihre Eintrittskarten. Er machte eine Geste zum Mittelgang hin. Sie fanden ihre Plätze, zwei Stühle mit gepolsterten Sitzen, nebeneinander, fast ganz vorn. Mutter setzte sich auf den inneren.

      »Du mit deinen langen Stelzen«, flüsterte sie. »Du brauchst ja Platz, um dich auszustrecken.«

      Ein hohes Stativ mit einem Mikrofon stand im Gang, dicht neben ihnen. Er musterte es. Die Füße des Stativs waren mit rotweißem Klebeband an den Boden geklebt. Er dachte an Absperrungen. Dann stellte er fest, dass etwas auf dem Band stand: »baggage« und die Worte »American Airlines«. Er wunderte sich noch über diese Beschriftung, als die Musik plötzlich dröhnend sein Ohr erreichte. Betörend und ganz nah.

      Wann war er das letzte Mal in der Kirche gewesen? Doch, ja. Bei Vaters Beerdigung. Er erinnerte sich nicht mehr an das Datum, nicht an das Jahr. Aber es hatte die Nacht zuvor geschneit, und die Sohlen seiner Schuhe waren rutschig wie auf Seife gewesen. Er war nicht mehr sicher gewesen, wann er da sein sollte. Als er zur Kirche kam, wurde gerade der Sarg aus dem Auto geholt. Aus einem silbernen Wagen. Er hatte gedacht, er müsste schwarz sein.

      Der Sarg stand auf einem dünnen, klapprigen Metallgerüst. Franki trat hinzu und stellte sich vor.

      »Wir sind uns ja schon begegnet«, sagte einer der Männer, und da fiel ihm das Beerdigungsinstitut ein.

      Der Sarg war braun, hatte kleine Füße. Unter dem Deckel lag sein Vater.

      »Wir müssen das nur noch ein bisschen in Ordnung bringen«, sagte der Mann vom Bestattungsinstitut. »Das dauert eine Weile. Aber noch ist es ja nicht so weit. Erst in ein paar Stunden.«

      Franki musste reingehen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Außerdem musste er dringend pinkeln. Der Mann vom Bestattungsinstitut versperrte ihm den Eingang.

      »Wollen Sie mit reinkommen?«, fragte er und seine Augenbrauen waren dunkel und hochgezogen. »Während wir alles vorbereiten, meine ich.«

      »Nein, nein«, wehrte er schnell ab.

      Er war hinter die Kirche gegangen und hatte dort gepinkelt. Als er den Reißverschluss seiner Hose hochzog, hörte er ein Kichern. Zwei quietschbunte Kindermützen tauchten hinter einem Stein auf. Er starrte gegen die Kirchenmauer, dachte sich, dass es zu glatt war, um hinterherzulaufen.

      Eine kräftige, durchdringende Frauenstimme durchschnitt den Raum. Franki hob den Kopf. Die Mutter wandte sich ihm zu, zeigte mit einem langen, rot lackierten Fingernagel auf den Programmzettel. Er las einen Namen. Sah seine Mutter an. Sie spitzte die Lippen, formte lautlos den Namen.

      »Waltraut Engen!«

      Die