Der Beschützer - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Der Beschützer - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445084



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er gedacht hatte.

      Wenn sie jetzt eine in den Mund kriegt. Und die sticht zu ...

      Nein, es hatte keinen Sinn, länger im Bett zu bleiben. Johnny stand auf und zog sich an. Er machte das Bett und legte die Tagesdecke darüber, darauf die beiden rosa Zierkissen, eines auf jede Seite. So leise er konnte, schlich er in den Flur. Jessies Tür war zu. Er stellte sich dicht davor und horchte, kein Geräusch zu hören.

      Mistkind, dachte er.

      Er zog sich seine Jacke an und ging nach draußen.

      Es war fast zwölf Uhr. Er bürstete ein wenig Schnee von der Windschutzscheibe und stieg dann in das eiskalte Auto. Er war nicht gläubig, ging nie in die Kirche, aber in diesem Augenblick, an diesem bleichen, eiskalten Dezembertag, spürte er den Wunsch nach irgendeiner Art geistigem Trost oder Nähe.

      Sie hatten eine Wohnung in der Härjedalsgatan in Vällingby. Da waren etwas verwohnte Vierzimmerwohnungen in Klinkerhäusern aus den Fünfzigern. Immer wieder hatten sie darüber diskutiert, ob sie nicht in ein Reihenhaus umziehen sollten, waren aber nie weiter gekommen.

      Eigentlich war die Wohnung auch ganz in Ordnung, das einzige Problem war, dass sie ziemlich hellhörig war. Johnny hatte immer schon in Wohnungen gelebt, ihn störte das nicht so sehr. Aber Lotta war in Norra Ängby aufgewachsen, in einem der kleinen, puppenhausähnlichen Eigenheime, die in den Dreißigern von wohlsituierten Arbeitern und einfachen Beamten gebaut worden waren. Vor allem sie war an einer Veränderung interessiert. Und Tatsache war, dass ein Zimmer mehr auch nicht schlecht wäre, wenn die Jungs größer wurden.

      Er fuhr linker Hand an der alten Mühle vorbei und rechts an dem bleichen Wasser von Lillsjön. Oder war schon Eis auf dem See? Er konnte es von der Straße aus nicht sehen, aber das war schon möglich, der See war klein. Hier unten gab es ein Gelände mit Kleingärten noch vom Anfang des Jahrhunderts. Einer der Männer auf der Wache, aus einer anderen Gruppe als Johnnys, hatte von einem alten Verwandten eine Hütte geerbt, und im Sommer hatten sie unter Obstbäumen Krebsschnittchen gegessen. Das war ein schöner Abend gewesen. Almis und Maria waren auch dabei gewesen. Niemand hatte irgendwelche Zeichen der bevorstehenden Trennung bemerkt. Alles war wie immer gewesen.

      An der Ampelkreuzung am Ulvsundavägen musste man immer lange auf Grün warten. So auch diesmal. Johnny hatte es nicht eilig, dennoch wurde er nervös, ertappte sich, dass er mehrere Male auf die Uhr schaute. Er dachte an Sirenen, hatte das Radio eingeschaltet, fühlte sich aber von der hämmernden Musik gestört. Endlich konnte er weiterfahren und erreichte schließlich sein Ziel, den Haga Norra Friedhof.

      Das Gelände war riesig groß, man musste die Grabnummer wissen, um zu finden, was man suchte. Aber Johnny war schon früher hier gewesen. Er fuhr durch das westliche Tor hinein und parkte am Straßenrand. Ein schwarzer Mercedes aus den 60ern, geputzt und gut erhalten, glitt an ihm vorbei zum Friedhof hin. Er sah Gesichter, gezeichnet von der Trauer. Er stellte sich aufrecht hin und verneigte sich hastig. Dann überquerte er die Straße und suchte seinen Weg zwischen den Gräbern.

      Abschnitt Dreizehn C. Da war es, das Grab der Feuerwehrleute. Der Stein war hoch und schmal und von einem mit Grünspan angelaufenen Helm und dem Feuerwehremblem gekrönt. Hier lagen die Feuerwehrmänner begraben, die im Dienst verunglückt waren, und ihre Namen waren in Stein gehauen, damit sie nie, niemals vergessen wurden. Die Grabstätte lag direkt neben der Straße, nur durch einen schwarzen, gespreizten Eisenzaun abgetrennt. Dort draußen donnerte der Verkehr vorbei, ein friedlicher Ruheort war das kaum, und er konnte sich schon denken, warum viele Angehörige es ablehnten, ihre Männer oder Söhne hier zwischen den Abgasen begraben zu lassen. Aber gleichzeitig war es ja logisch, irgendwie blieben sie dort, wo sie auch im Leben hingehört hatten: Zwischen den Autos, der Hetze, dem Puls der Großstadt.

      Johnny stand vor der Gedenkstätte und fror. Kleine, körnige Schneeflocken rieselten auf ihn herab und puderten den Helm auf dem Stein.

      Almis, dachte er. Würde Almis’ Namen ganz unten eingemeißelt werden unter denen, die schon da standen? Oder würde er woanders beerdigt werden? Wer würde das entscheiden? Seine Eltern? Johnny musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo Almis’ Eltern geblieben waren.

      Johnny und Almis hatten als Kinder zusammen gespielt, Almis wurde schon damals Almis genannt. Johnny erinnerte sich an die kleine rundliche Mama, sie kam aus Polen, und er hatte Schwierigkeiten gehabt zu verstehen, was sie sagte. Weshalb er ihr nur selten antworten konnte, und er fühlte sich angespannt und unsicher, wenn er bei Almis zu Hause war, hatte jedes Mal panische Angst, dessen Mutter könnte ihn ansprechen. Der Vater arbeitete in der Wäscherei. Abends kam er mit einem alten Wäschekarton auf dem Lenker schaukelnd nach Hause geradelt. Manchmal lagen Dinge in dem Karton, die er in der Schmutzwäsche gefunden hatte. Einmal hielt er der polnischen Mama eine kleine goldene Armbanduhr entgegen. Sie schüttelte abwehrend den Kopf und verschwand mit festem Schritt in der Küche.

      Es war übrigens lange her, seit das Grab das letzte Mal in Anspruch genommen worden war. Der Letzte, der hier begraben worden war, das war H. H. Fritz, 1923–1975. Er war über fünfzig, als er starb.

      Almis war jung. Erst fünfunddreißig.

      Johnny hatte gehört, wie sie über Hugo Fritz gesprochen hatten. Er war bei einem Feuer in Blasut umgekommen, in einer Werkstatt, die zu den Nahverkehrsbetrieben von Großstockholm gehörte. Er arbeitete auf der Wache von Kungsholm und war an dem Tag Brandbekämpfer, zusammen mit einem anderen Feuerwehrmann von derselben Wache. Anfangs waren noch zwei andere Wachen alarmiert worden, Katarina und Farsta. Später war Verstärkung aus Kungsholm angefordert worden. Wenn Hugo H. Fritz an dem Tag freigehabt hätte, wäre er vielleicht jetzt noch am Leben. Aber er hatte nicht frei, und das Schicksal wollte, dass sein Leben genau wie das von Stefan Almgren endete.

      Johnny wünschte sich, er hätte etwas dabei, was er neben den Kranz aus Tannenzweigen hätte legen können, etwas Lebendigeres. Ein Zittern durchfuhr seine Muskeln, er musste eine Weile den Kopf beugen. Während er so dastand, dachte er, dass das wohl übertrieben ehrfurchtsvoll aussehen musste, falls ihn jemand zufälligerweise hier stehen sehen würde.

      Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Eine Schar Dohlen flog über die Gräber. Johnny durchfuhr ein Schauer, und er kehrte zum Auto zurück.

      Obwohl es erst zwei Uhr war, fuhr er zur Wache. Die Wagenhalle lag leer da, die Leute waren wohl bei irgendeinem Brand. Er ging in die große Küche und begrüßte Svempa, Sven-Inge Lindgren, der seit Urzeiten die Wache putzte. Er war ein Mann in den Sechzigern, hochgeschossen und immer auffallend freundlich. Sein Haar war weiß und gelockt, nicht schütter, wie man sich denken konnte, sondern richtig dicht. Es sah fast künstlich aus.

      »Hast du eine Perücke?«, hatte jemand mal gefragt. Johnny erinnerte sich, dass es Tuborg gewesen war, Anker Hahn. Der konnte manchmal so schrecklich plump sein.

      Svempa hatte sich umgedreht, seine durchsichtige Haut wurde ganz rosa.

      »Perücke?«, hatte er wiederholt, und Johnny sah noch genau die sehnigen, mageren Hände vor sich. Hör auf, hatte er gedacht, hör auf, den armen Teufel zu ärgern!

      Tuborg packte Svempas Haarmähne und zog daran, nicht hart, aber mit dem sonnenklaren Ziel, ihn zu kränken.

      »Die hast du ja verdammt gut festgeklebt, ist das Sekundenkleber oder was?«

      Svempa trat einen Schritt zurück, seine Augen waren blutunterlaufen, das waren sie eigentlich immer, aber in dem Moment sah es aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Entweder war jemand hereingekommen, oder sie hatten einen Alarm gekriegt, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es geendet hatte. Er dachte mit großem Unbehagen daran, hatte Lust, Svempa etwas zu sagen, etwas Tröstliches, Kameradschaftliches.

      Svempa war dabei, den Linoleumfußboden zu wischen, er rieb emsig auf den schwarzen Streifen herum, die die Stahlrohrstühle hinterließen.

      »Das nützt nichts«, sagte Johnny. »Du vergeudest deine Kraft, Svempa. Diese Streifen sitzen bombenfest.«

      »Nun ja. Hartnäckigkeit siegt. Man kann es jedenfalls versuchen.«

      Johnny zuckte mit den Schultern.