Tochter der Diebin. Bo R. Holmberg

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Название Tochter der Diebin
Автор произведения Bo R. Holmberg
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711461495



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umkreiste ihre Mutter.

      Sie folgte ihr, stand nah bei ihr, zog den Stuhl heran oder suchte vergeblich ihren Blick. Manchmal fauchte ihre Mutter sie wie eine gereizte Katze an, sie sollte aufhören, sie so anzustarren, und weggehen.

      Die Wunden heilten.

      Eines Abends stand Anna vor den geöffneten Fensterläden. Sie hatte ihr Hemd angehoben und entblößte ihren Rücken.

      »Ist noch was zu sehen?«, fragte sie.

      Nein, alle Wunden waren geheilt. Nur eine schwache Röte war noch zu ahnen. Da lachte Anna laut und scharf, und Kerstin hatte ein Gefühl, als ob ihr Herz in den Magen sank.

      Am nächsten Morgen war nur noch eine Hand voll Mehl im Kasten, und draußen auf der braun verbrannten Erde dieses Sommers stand die magere Kuh angebunden und brüllte ausdauernd.

      ... Kerstin denkt an die wenigen Brotkanten im Schrank, an den leeren Mehlkasten und an Eliassons leeres Auge, als er sie hinauswies, und die Angst presst sie zusammen, und sie weiß nicht, was geschehen soll, wenn alles aufgegessen ist. Sie geht um das Haus herum, es ist früh am Morgen, sie geht durch den Tau und versucht die Erinnerung an Geborgenheit hervorzulocken, um damit die Furcht zu verjagen.

      Die Schlittenfahrt von damals kommt ihr in den Sinn, auch eine Erinnerung an Trauer, Abschied und Umzug. Aber – merkwürdig – vor allem ist es die Ahnung an eine Geborgenheit, die die Erinnerung wach hält.

      Sie hört die Kufen im Schnee, sie hört die Stimme ihrer Mutter, wie sie alle verflucht, die sie von ihrem Hof vertrieben haben. Aber sie hört auch die leise, schmeichelnde Stimme, die sie in den Schlaf wiegt. Und das Weinen hört sie, das Weinen über den Vater, der ertrunken ist.

      Und dann plötzlich das Gefühl, satt zu sein, wenn Mutter ihr etwas geben kann, Trost und Essen.

      Das ist Kerstins Erinnerung an Geborgenheit, und diese Erinnerung hält sie fest, auch wenn sie jetzt begreift, dass das Essen gestohlen war.

      Darum also hat Mutter gestohlen. Für mich war es damals; und auch später: Sie hat immer nur gestohlen, wenn wir nichts hatten.

      Und jetzt gibt es nichts mehr zu essen.

      Kerstin geht wieder in die Kate. Sie hat sich entschieden. Sie nimmt den Spankorb und macht sich auf den Weg.

      Es ist die Zeit der Heumahd, auf den Wiesen stehen Heureiter aufgereiht, und sie hat kaum den Weg nach Flärke erreicht, da sieht sie schon die Erntehelfer mit Sensen und Harken über die Wiesen kommen. Auch unten im Kirchdorf sind Leute auf den Wiesen zum See, und sie will umkehren, um sich nicht ihren Blicken auszusetzen. Aber dann fällt ihr der leere Schrank ein, und sie sieht starr auf die Erde und geht weiter, nicht nach Myckelbyn hinunter, sondern den Weg nach Flärke hinauf, der voller tiefer Löcher ist.

      Sie hat noch nie gebettelt, und sie weiß nicht, wie man es macht. Doch sie trägt den Korb, und sie weiß, dass die Häuser jetzt leer sind und es keinen Sinn hat, sie aufzusuchen. Sie nähert sich den Wiesen, wo die Erntehelfer mit der Arbeit begonnen haben. Sie gehen in einer Reihe, der mit der Sense ein paar Schritte vor den Harkenden, die Sense zischt durchs Gras, und Kerstin senkt wieder ihren Kopf zur Erde und streckt bitte den Korb vor.

      »Aus dem Weg, wenn dir deine Beine lieb sind!«

      Rasch springt sie zur Seite, jemand lacht über sie, und sie schnappt Wörter wie »Anna, die Diebin«, und »Diebsgesindel« auf, und sie möchte wegrennen. Aber sie folgt der Reihe in einigem Abstand und betet, dass man sie nicht ohne einen Almosen fortjagt.

      Als die Erntearbeiter das Ende der Wiese erreichen, dreht auch sie um. Sie flüstert nicht mehr, sie geht mit ausgestrecktem Korb neben ihnen her, hält ihn in der linken Hand. Aber jetzt kümmert sich niemand mehr um sie.

      Sie versucht, nicht daran zu denken, was sie tut. Sie bettelt nicht, sie geht hier nur neben ihnen her, sie ist doch wie alle anderen. Sie hilft auch bei der Ernte. So ist das.

      Schließlich wirft eine Frau die Harke von sich, geht hinter einen Heuhaufen und holt eine Laib Brot, den sie ohne ein Wort in den Korb steckt. Kerstin knickst, geht aber weiter neben ihnen her. Jemand ruft, sie wollten sich jetzt ausruhen, und alle lassen sich am Grabenrand nieder. Die einen liegen halb und blinzeln in die Sonne, andere sitzen aufrecht da und wischen sich den Schweiß aus dem Gesicht. Kerstin bleibt stehen, den Korb in der Hand. Einer der Bauern erhebt sich und kommt auf sie zu.

      Er bleibt vor ihr stehen und spricht erst, als sie zögernd zu ihm aufsieht. Er hat ein rundes glatt rasiertes Gesicht.

      »Ich bin Jon Sigfridsson. Du darfst bei mir harken, dann brauchst du nicht zu betteln.«

      Für einen Moment bleibt ihr Blick an seinem hängen, und sie nickt ihm zu, bevor sie wieder versucht, sich unsichtbar zu machen.

      »Dann bleibt es also dabei. Du kannst morgen anfangen.«

      Jetzt hat sie es eilig, wegzukommen. Sie drückt den Korb gegen die Brust, während sie zur Bootsmannskate läuft. Sie muss schnell nach Hause und alles erzählen.

      Sie hat eine Arbeit, jetzt braucht sie nicht mehr zu betteln.

      Und Mutter braucht nicht zu stehlen!

      Jetzt war Kerstin Erntehelferin. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend schuftete sie wie die anderen auf den Wiesen, die sich bis zum Wasser hinunter erstreckten. Während der Pausen kühlten sich die Jungen im See ab, schließlich sogar Kerstin. Aber nie hob sie den Blick, wenn sie es nicht musste. Niemand sprach sie an, nur Jon, der mit der Sense ein paar Schritte vor ihr herging. Die kurzen Momente im Schatten des Heuhaufens genoss sie, das kitzelnde Heu im Rücken und am Hals. Und das Essen. Dieses Brot, das weich geworden war in der Hitze, Brot mit Butterklumpen, die durch die Teiglöcher drangen. Und salziger Speck, dessen Würze sich im Mund verbreitete. Sie aß nur wenig von den Butterbroten. Den Rest versteckte sie im Heuhaufen. Später, in der Nacht würde sie die Reste abholen, wenn ihr nicht Mäuse oder andere Tiere zuvorgekommen waren.

      Nach der Arbeit wanderte Kerstin den weiten Weg zur Kate zurück. Sie benutzte nicht den Weg, sie lief über die frisch gemähten Wiesen und Waldlichtungen.

      Eines Abends auf dem Heimweg streckte sie sich auf dem Rücken zwischen einigen Birken aus und guckte in den Himmel hinauf, der blauer war als Margaretas Augen.

      Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken, jemand sang, und er kam näher. Sie konnte sich nirgends verstecken und erhob sich, um wegzugehen, als die Birkenzweige beiseite geschoben wurden und ein Junge vor ihr stand.

      Er war einige Jahre älter als sie. Sein Haar war blond und sein Gesicht offen, noch ohne einen Bart.

      Sie standen sich eine Weile gegenüber, als ob sie etwas Unrechtes getan hätten. Aber schließlich lächelte der Junge und reichte ihr die Hand.

      »Wer bist du?«

      »Kerstin Nilsdotter.«

      »Ich bin Erik«, sagte er.

      Er setzte sich hin und faltete die Hände im Nacken. Sie stand neben ihm und sah zum Dorf hinunter.

      »Ich hab dich noch nie gesehen.«

      »Ich helfe Sigfridssons bei der Heumahd.«

      Sie wollte nicht, dass er mehr fragte. Sie wollte Kerstin Nilsdotter sein, wenn auch nur für einen Augenblick. Und nicht die Tochter von Anna, der Diebin.

      »Viel zu tun jetzt, oder?«, sagte er. Das klang ein bisschen überheblich. Aber sie musste lächeln und begegnete seinem blinzelnden Blick.

      »Wegen der Heumahd«, fügte er hinzu.

      Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und spürte plötzlich, wie ihr Gesicht heiß wurde.

      »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.

      »Wir können uns ja mal wieder hier treffen«, sagte er und erhob sich rasch. »Und uns unterhalten ...«

      Aber darauf gab sie keine Antwort. Zögernd blieb sie noch einen Augenblick stehen, wusste nicht recht, was sie tun sollte,