Tochter der Diebin. Bo R. Holmberg

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Название Tochter der Diebin
Автор произведения Bo R. Holmberg
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711461495



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zu bereuen.«

      Anna saß reglos, die Hände nicht gefaltet; sie ruhten auf dem Querbalken. Das Haar war gekämmt, bleich war sie, ihre Augen waren nicht hinauf zur weißen Decke der Kirche gerichtet, die mit ihrem Muster aussah wie der Sternenhimmel. Nein, geradeaus sah sie. Sie saß ganz still, allen Blicken und der Schmach preisgegeben.

      Schräg links vor ihr saß Lehnsmann Stenberg. Die Schadenfreude glühte noch in ihm. Er suchte Augenkontakt mit ihr, aber ihr Blick war starr geradeaus gerichtet, als ob sie beschlossen hätte nichts zu sehen, nichts zu hören, obgleich die meisten Worte des Pfarrers ihr galten.

      »In der Hölle landen Diebe, Buhler und alle, die vom Weg des Herrn abweichen. Nehmt euch das Schicksal dieser Frau zur Lehre und Warnung. Lasst die Hölle ohne euren Körper brennen.«

      Die Stimme des Pfarrers füllte die Kirche, Menschen seufzten und duckten sich unter seinen peitschenden Worten. Er verstummte, und alles schielte hinauf zur Kanzel. Jetzt erklärte er:

      »Und die Ewigkeit, was ist das? Stellt euch eine Tannennadel vor, stellt euch so viele Tannennadeln vor, wie es sie im riesigen Wald gibt. In jedem millionsten Jahr holt sich ein Vogel eine Tannennadel von einem Baum. Wenn er so viele Tannennadeln geholt hat, wie in einer Schüssel Platz haben – dann ist ein Augenblick der Ewigkeit vergangen. Bedenkt das und bedenkt auch, wie unsäglich lang die ganze Ewigkeit ist. In Ewigkeit kann man im Feuer gemartert werden, aber man kann auch eine Ewigkeit in Wonne bei Gott erleben, die ohnegleichen ist ...«

      Ganz hinten saß Kerstin mit den Kleinen, in ihrem Arm schlief Margareta. Weder sah sie etwas, noch hörte sie die Worte des Pfarrers, sie blickte auch nicht zu ihrer Mutter, sondern starrte auf die abgewetzten Dielen. Aber sie wusste die Mutter dort vorn. Dort saß sie mit ihrem brennenden Rücken. Kerstin hatte ihn eingesalbt, aber noch waren die Wunden nicht verheilt. Erst fünf Tage waren vergangen, seit die Rute ihren Rücken und die Schultern aufgerissen hatte. Die Kleider schmerzten auf ihrer Haut, und die ganze Zeit war sie mit nacktem Oberkörper auf dem Hof herumgegangen, während die Kinder sie verwundert betrachtet hatten. Meistens hatte sie jedoch gelegen, mit ausgestreckten Armen auf dem Bauch, um von den Schmerzen wegzuschlafen. Aber heute war Sonntag, und heute sollte sie die Absolution in der Kirche erhalten.

      Der Pfarrer war bereit. Bald würde er Anna auffordern, Buße und Besserung zu geloben und die Gemeinde und den Pfarrer um Vergebung zu bitten. Vorher erklang jedoch die Orgel, Füße scheuerten über den Boden, Kehlen räusperten sich.

      Dann hörte Kerstin die Fragen des Pfarrers, aber die Stimme der Mutter war schwach, und sie musste ihr Versprechen wiederholen, dass sie nun ein ehrliches Leben führen werde. Kerstin hörte, wie die Gemeinde Anna wieder in der Gemeinschaft mit Gott aufnahm.

      Leise, ganz leise vernahm Kerstin die Stimme der Mutter. Bald war es vorüber.

      Möge es für ewig vorüber sein.

      Kerstin trug Margareta auf dem Arm, Per nahm Elsa bei der Hand, und dann schlichen sie hinaus. Schweigend machten sie sich davon, ohne dass jemand es bemerkte. Sie hatten gelernt, sich unsichtbar zu machen, sogar die Kleinen. Sie hatten gelernt, dass es für den, der eine Diebin zur Mutter hatte, am besten war, nicht sichtbar zu sein.

      Sie hieß Anna Ersdotter.

      Früher hatte sie in einer Bootsmannskate in Nordmaling gelebt. Damals, als ihr Mann, Bootsmann Nils Bister, noch zwischen den Kriegen und Übungen heimkehrte. Aber eines Tages hatte sie vergeblich gewartet. Keine Kugel hatte ihn aufgehalten, er war ertrunken, zusammen mit allen anderen Soldaten, der ganzen Bootsbesatzung.

      Eine Bootsmannswitwe hatte keine Rechte. Ein neuer Bootsmann wurde von den Bauern rasch eingesetzt. Eines Tages hatten sie einfach die Tür geöffnet und sich hereingedrängt und ihr mitgeteilt, sie habe zu gehen, jetzt, da Bootsmann Bister tot war, genauso tot wie die Kinder, die auf dem Friedhof ruhten. Von ihren Kindern hatte nur Kerstin überlebt.

      Aufs Überleben kam es an. Es war später Winter gewesen, und sie hatte ihre Tochter zusammen mit dem wenigen Besitz auf einem Schlitten durch Wälder und über feuchte Moore gezogen, während der Hunger in ihrem Magen grub. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten, sie hörte das Weinen ihrer Tochter, und das war eine Bestätigung für sie, dass sie ein Recht hatte, sich in einem Vorratshaus zu bedienen.

      So hatte es angefangen, in jenen Jahren, als es darauf ankam, von einem Tag zum anderen zu überleben. Nur Krumen hatte sie genommen, in vielen Speichern, und nie war sie entdeckt worden. Sie hatte es getan, um zu überleben.

      Schließlich war sie in dieses Dorf hier geraten. Auch hier gab es Bauern mit Besitz, und wie überall auch Bootsmänner. Sie hatte sie gesehen, wie sie mit leeren Gesichtern und blanken Augen aus den Kriegen heimgekehrt waren. Und sie hatte an ihren Nils gedacht, der auf dem Meer geblieben war, und an die Bauern, die sie aus ihrem Heim vertrieben hatten.

      Sie hatte sich weiter aus fremden Speichern versorgt.

      Die waren jetzt mit starken Schlössern versehen.

      Nicht, um sie aufzuhalten. Alles wäre gut gegangen, wenn sie das eine Mal, als sie gesehen wurde, nicht allzu nah beim Wohnhaus gewesen wäre. In dem Augenblick, als sie die Tür des Vorratsschuppens einschlug, spürte sie den Blick, sie versuchte, ihr Gesicht zu verbergen, und lief schnell in den Wald und zur Kate. Jede Sekunde erwartete sie, die Schritte des Verfolgers zu hören, erreichte jedoch ohne Zwischenfall das Haus und versteckte die wenigen Sachen, die sie genommen hatte und die kein Essen waren. Doch allzu schnell war er gekommen, Stenberg, und hatte ihre Verstecke aufgespürt.

      Wenn sie nur nicht beobachtet worden wäre ...

      Anna stand in der Türöffnung und schaute über den Acker. Eine heiße Welle lief ihr den Rücken herunter, als sie sich vorbeugte. Sie blieb stehen, während die Erinnerungen sie überwältigten. Sie hörte die erregten, höhnischen Stimmen, sie spürte die sausenden Hiebe gegen ihren ungeschützten Rücken. Am lautesten dröhnte die Stimme von Lehnsmann Stenberg. Unvermittelt konnte sie plötzlich ertönen, manchmal war sie so deutlich, dass Anna zusammenzuckte und befürchtete, er sei auf dem Hof.

      Per und Elsa saßen im Schotter und spielten mit Tannenzapfen. Vom Holzstoß kam ein Gestank nach Urin und Fäulnis. Sie schlug die Tür zu, als wollte sie entkommen und sich vor allem verbergen. Aber selbst im Haus war die Luft erstickend abgestanden von altem Stroh; in einem Eimer schwammen verfaulte Essensreste, und ihre Füße klebten am Fußboden.

      In den Schränken war kaum noch etwas zu essen, und ihr Rock hing in Fetzen herunter. Am liebsten wäre sie ins Bett gekrochen zu Margareta, die mit offenem Mund schlief, aber sie musste versuchen, Ordnung zu schaffen. Sie öffnete die Fensterläden und holte Wasser aus dem Brunnen, trug es mit dem Joch über den Schultern ins Haus. Jetzt sollte es hier sauber werden. Sie goss Wasser aus und wischte mit dem Besen über den Fußboden. Viel Wasser verschwand zwischen den breiten Ritzen, und den Rest schob sie durch die Luke neben der Tür ins Freie.

      Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb sie stehen. Jetzt sah es ein wenig besser aus. Sie schnupperte und nahm nur noch den Geruch nach gereinigtem Holz wahr. Margareta blinzelte, schlug die Augen auf und begann sofort zu weinen. Sie hörte erst auf, als Anna ihr ein Läppchen in den Mund gesteckt hatte, an dem sie saugen konnte.

      Sie setzte sich an den Tisch. Sie spürte ihren Rücken, wieder spürte sie die Schläge und hörte die brüllende Stimme von Lehnsmann Stenberg.

      Heftig stand sie auf, ging auf dem frisch gescheuerten Boden hin und her. Anna blieb bei Margareta stehen, betrachtete sie lange. Dann angelte sie das Kissen unter ihrem Kopf hervor und drückte es zusammen, ließ los und presste es immer wieder.

      Schließlich warf sie es auf den Tisch, hob ihre geballten Fäuste und schlug zu.

      Mit jedem Schlag hämmerte sie sich ein:

      Nie mehr werden sie mich schnappen, nie mehr darf mich Stenberg durch den Haufen zum Schandpfahl führen, nie mehr werde ich unter den Blicken der Bauern dastehen und das leuchtende Gesicht des Pfarrers sehen.

      Nie mehr!

      Sie hielten sich meistens in der Kate auf, als wären sie eingeschlossen. Anna starrte