Tochter der Diebin. Bo R. Holmberg

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Название Tochter der Diebin
Автор произведения Bo R. Holmberg
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711461495



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beugte sich vor, ließ die Hand durch die Luft fahren, während er zählte.

      Annas Schreie verstummten, und ihr Kopf fiel schwer nach vorn, die Ruten waren rot gefärbt. Die Schläge des Profos kamen nicht mehr so schnell, aber er folgte ihnen mit dem ganzen Körper, wenn er zuschlug. Sie arbeiteten im Takt, er und der Lehnsmann.

      »Siebzig, einundsiebzig, zweiundsiebzig. Die letzten, schlag ordentlich zu, damit sie’s auch spürt!«

      Der Profos hob die Rute für die letzten Hiebe.

      »Und der letzte! Achtundsiebzig!«, schrie der Lehnsmann.

      Dann war es vorbei. Der Lehnsmann nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß vom Kopf. Der Profos zerschnitt das Seil, und Anna sackte am Fuß des Schandpfahles zusammen.

      Jetzt war es still, nur das schwarze Schwein rannte quiekend in den Wald. Doch bald drängten sie heran, traten gegen ihren Körper und bespuckten sie. Der Profos zog sich zurück. Aus der Innentasche seines langen Rockes holte er eine Flasche hervor, entkorkte sie, legte den Kopf zurück und ließ das Getränk in seine Kehle rinnen.

      Der Lehnsmann beugte sich über das Häufchen, das Anna, die Diebin, war. Er hatte sich in Rage gebracht, bespuckte sie nun auch, richtete sich dann auf und wurde wieder Obrigkeit. Laut rief er, damit es alle hörten:

      »Das euch allen zur Warnung und Lehre!«

      Dann ging er denselben Weg zurück, den er gekommen war, ohne mit jemandem zu sprechen. Dort, wo es in seinem Mundwinkel gezuckt hatte, saß nun ein Lächeln. Alle anderen verloren nun auch das Interesse an dem Ganzen. Das Fest war zu Ende. Der Langbärtige mit der Tonne verkaufte den letzten Tropfen, und der Verkäufer von Miniaturgalgen hob die Planke auf seinen Rücken. Die Leute verschwanden langsam, zum Waldrand, den Weidezäunen und hinaus auf den sengenden, staubigen Weg.

      Zurück beim Schandpfahl blieb nur Anna, die Diebin, leblos. Vom Wald her zwitscherte kurz ein Vogel, sonst war es still.

      Kerstin lief mit einer gluckernden Flasche in der Hand durch den Wald.

      Sie lief leichtfüßig, ohne zu stolpern, wich Baumwurzeln, Steinen und Büschen aus. In ihrer Brust hämmerte die Unruhe. Und der Schmerz und die Sorge. Doch die Beine waren flink. Sie rannte, als ob sie eine Botschaft hätte, die sie rasch überbringen musste.

      Es war Abend geworden, aber die Sonne brannte fast noch genauso sehr wie am Tag.

      Ihre Geschwister zu Hause hatte sie endlich zum Einschlafen gebracht. Viel zu essen konnte sie ihnen nicht geben. Die Kuh brüllte nur wie vor Schreck, als sie versucht hatte, ein paar Tropfen aus den schlaffen Eutern zu pressen. Eine gekochte Rübe und ein verdorbenes Stück Brot waren das Einzige was sie gefunden hatte. Aber schließlich waren sie eingeschlafen, alle drei. Das Jüngste hatte lange geweint, war aber plötzlich verstummt.

      Kerstin hatte schon befürchtet, es sei gestorben. Sie hatte sich über die Kleine gebeugt und gelauscht, mit den Händen ihren Brustkorb abgetastet. Und natürlich lebte die kleine Schwester. Sie atmete ruhig.

      Kerstin läuft durch den Wald, das Herz hämmert. Hin und wieder blitzt die Sonne zwischen den Bäumen.

      Bald lichtet sich der Wald, es werden mehr Pfade. Sie hört die Schläge einer Axt und bleibt stehen, aber das Geräusch kommt von weit her, kein Holzfäller wird ihr über den Weg laufen.

      Dann öffnet sich der Wald. Und dort mitten auf dem offenen Platz steht der Schandpfahl, jetzt nackt und verlassen. Sie bleibt am Waldrand stehen, lauscht und späht.

      Vornübergebeugt geht sie weiter, rasch gleitet sie voran und erreicht den Pfahl und das Bündel auf dem Boden.

      Anna liegt auf dem Gesicht, die Beine ein wenig angezogen, einen Arm ausgestreckt.

      Kerstin nimmt ihre Hand. Sie ist warm, umklammert ein Grasbüschel, als ob die Erde selbst ihr auf die Beine helfen könnte. Der Rücken ist voller Streifen, das Blut ist geronnen. Wie dünne Adern zieht es sich bis zum Hals.

      Vorsichtig berührt Kerstin ihre Schultern und dreht Anna auf die Seite. Die Mutter stöhnt, lässt sich aber umdrehen. Auch ihr Gesicht ist voller Streifen von den Tränen und von Schmutz. Ihre Augen starren hasserfüllt.

      »Ich bin’s«, sagt Kerstin. »Ich bin es nur.«

      Sie öffnet die Flasche, formt eine Hand zu einer Schale und befeuchtet Annas Lippen.

      »Gott sei Dank, dass du es bist. Hilf mir auf.«

      Mühsam setzt sie sich hin, trinkt gierig von dem Wasser und legt sich dann wieder auf den Bauch.

      Kerstin streichelt sie vorsichtig. Anna stöhnt, als sie ihr eine Salbe aus Birkenrinde auf die Wunden streicht.

      »Ja, ja, ja«, sagt sie dennoch. »Mein Rücken brennt wie Feuer. Aber noch bin ich nicht tot.«

      Sie krallt die Hände in die Erde, zieht die Beine an, stöhnt, wimmert, rappelt sich aber auf.

      Schwankend steht sie vor Kerstin. Das zottige Haar voller Zweige und Tannennadeln und das Gesicht grau wie die Kate.

      »Noch bin ich nicht tot. Aber schau, was sie mit mir gemacht haben. Schau, was sie gemacht haben.«

      »Mutter«, sagt Kerstin, und ihr ganzer Körper ist voller Weinen, »wie geht es Euch?«

      »Jetzt schaff ich es«, sagt die Mutter.

      Sie macht ein paar stolpernde Schritte, fällt jedoch sofort schwer zu Boden, aber sie steht noch einmal auf. Sie legt einen Arm um die Schultern ihrer Tochter, und dann setzen sie sich mühsam in Bewegung.

      Sich verstecken, nicht sichtbar sein.

      Das hat Kerstin gelernt. Das Getuschel hat sie längst gehört und auch den Namen, den man ihrer Mutter gegeben hat. Auch jetzt geht sie mit niedergeschlagenen Augen. Es ist, als ob sie versuchte, mit der Erde eins zu werden. Sie wanken durch den Wald, Kerstin als Stütze ihrer Mutter. Jetzt ist ihre Mutter bestraft, die Züchtigung ist vorbei, aber die Schmach wird bleiben, das weiß Kerstin. Niemals wird sie den Blick heben und freimütig durchs Kirchspiel gehen können wie andere.

      Zwischen den Tannen sieht sie den Gasthof. Jetzt haben sie das Dorf hinter sich gelassen.

      »Bald sind wir zu Hause, Mutter«, sagt sie, doch die antwortet nicht.

      Schweigend gehen sie weiter, hin und wieder entschlüpft Anna ein Stöhnen, Kerstin schielt zu ihr hin. Die Augen der Mutter sind schwarz.

      Dort am Waldrand steht die Bootsmannskate. Die kleinen Ackerzipfel liegen brach, sind von Unkraut überwuchert, und auf der Wiese kämpfen sich ein paar neue Halme aus dem gelbbraunen Vorjahrsgras hervor.

      Kerstin bleibt stehen, um zu prüfen, ob die Luft rein ist, bevor sie zum Haus gehen.

      Immer noch schweigt Anna, und Kerstin hat auch nichts zu sagen. Sie ist froh über die Stille, dann können die Kleinen nicht aufwachen. Sie hebt den Banksitz ab, schlägt die Felldecke auf und hilft ihrer Mutter, sich hinzulegen.

      Jetzt verlässt die Unruhe Kerstins Körper. Erschöpft legt sie den Kopf auf den Tisch.

      Jetzt ist es vorbei.

      Lehnsmann Stenberg leerte seinen Bierkrug, rülpste laut und winkte der Wirtsfrau, sie möge ihm nachschenken.

      Sie watschelte mit einem neuen schäumenden Krug zu ihm heran.

      »Gibt es einen Grund zu feiern?«, fragte sie im Vorbeigehen, wartete aber die Antwort nicht ab. Sie mochte ihn nicht. Er war groß und stattlich. Den Bart hatte er abrasiert, und sein Schädel, den er jedoch selten zeigte, war fast kahl. Meistens trug er seine Lehnsmannmütze. Er flößte ihr keine Ehrfurcht, sondern Angst ein.

      Die Gaststube war voll, die Tische bedeckt mit Bierseideln, Holztellern, mit abgenagten Knochen und Talglichtern, die flackerten, wenn die schwere Holztür geöffnet und geschlossen wurde.

      »Anderen zur Abschreckung und Warnung«, brummelte der Lehnsmann mehr zu sich selbst. Aber er war nicht allein am Tisch. Dort saßen auch zwei