Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Sascha Bechmann

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Название Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation
Автор произведения Sascha Bechmann
Жанр Документальная литература
Серия Kommunizieren im Beruf
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823302230



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und Arzt begründet? Und auf welche Weise kann dies überhaupt gelingen?

      Neben diese speziellen Fragen drängt sich eine allgemeinere: Welchen Einfluss hat die von Gigerenzer und Gray skizzierte Entwicklung auf das Gesundheits- bzw. Krankheitsverhalten, auf die Arztrolle und auf das Selbstverständnis von Patienten sowie auf die Arzt-Patient-Interaktion generell?

      All das sind Fragen und Aspekte mit denen sich gegenwärtige nicht nur sozioanthropologische, sondern auch linguistische und natürlich medizinische Untersuchungen auseinandersetzen, wie ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt. Den Ansatzpunkt für diese Auseinandersetzungen bildet die (kommunikative) Praxis. In den Fokus rückt hier das wohl wichtigste Element der Arzt-Patient-Interaktion: das Gespräch. Dass insbesondere die Linguistik mit ihren eigenen Untersuchungsmethoden und ihren fachspezifischen Zugriffsmöglichkeiten auf den Gegenstand „Gespräch“ im Konzert der Disziplinen eine Schlüsselrolle einnimmt, ist aus der Forschungspraxis heraus evident. Diese Rolle wird auch in der Zukunft in dem Maße weiter verfestigt, in dem das Bewusstsein für die Notwendigkeiten der Veränderung im kommunikativen Handeln von Ärztinnen und Ärzten2 zunimmt. Wenn die kommunikative Praxis künftig den Dialog über den funktionalen Akt der Informationsakquise stellt, werden Studien, die das Gespräch als zentrales Element kommunikativen Handelns weiter systematisch in den Blick nehmen, notwendig werden.3 Nicht zuletzt wird damit für die Zukunft ein Umdenken in den medizinisch-soziologischen Disziplinen notwendig, die den Schulterschluss mit den sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Fächern suchen müssen. Auch die Linguistik ist gefordert, sich ein Stück weit für Probleme mit konkreten Handlungs- und Anwendungsbezügen zu öffnen, was diesem Fach aufgrund seiner unklaren Position zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften erfahrungsgemäß nicht leicht fällt. Einen Vorstoß in diese Richtung wagt die vorliegende Untersuchung, die sich bewusst nicht (oder nicht nur) als linguistische Studie versteht, sondern stattdessen versucht, interdisziplinäre Bezüge herzustellen, um das Phänomen möglichst ganzheitlich betrachten zu können.

      1.1 Rahmenbedingungen – Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation

      Mit der aktuellen Forderung nach einer aktiveren Patientenbeteiligung im Zusammenspiel zahlreicher Akteure bei der medizinischen Entscheidungsfindung werden hohe Ansprüche an die kommunikative Kompetenz von Ärztinnen und Ärzten erkennbar. Analysen ärztlichen Gesprächshandelns sind entsprechend darauf ausgerichtet, Defizite sichtbar und Kompetenzziele valide darstellbar zu machen. Ein wichtiges Ziel gesprächsanalytischer Untersuchungen zur Arzt-Patient-Kommunikation und ihrer Aufarbeitung durch Praktiker ist seit einigen Jahren bereits die Identifizierung spezifischer Kommunikationsmuster für z. T. divergierende oder sich ergänzende Beziehungsmodelle (Paternalismus, Dienstleistung, Kooperation). Aus den Befunden lassen sich sowohl Unterschiede zwischen der Förderung und Verhinderung von kommunikativen Aushandlungsprozessen erkennen als auch Lösungen entwickeln, mit denen Konzepte partnerschaftlicher Aushandlung praxisnah ausgestaltet werden können. Auch wenn im Prinzip der Anspruch besteht, durch valide Studienergebnisse kommunikative Kompetenzen nachvollziehbar und damit lehr- und sogar prüfbar zu machen, ist zunächst von einer Asymmetrie zwischen professionellem Wissen und Laienwissen auszugehen, die nicht leicht überwunden werden kann. Jedoch helfen die Ergebnisse aus der Forschung zur Arzt-Patient-Kommunikation dabei, diese Asymmetrie im Sinne einer gemeinsamen, qualifizierten Verantwortungsübernahme bei der Entscheidungsfindung zu überbrücken und damit bei aller Verschiedenheit (in den kommunikativen Voraussetzungen, Interessen und Zielen) so etwas wie partielle Gleichheit herzustellen.

      Dazu ist es zwingend erforderlich, die in der Forschungstradition etablierte einseitige Betrachtung zugunsten einer, auch den Patienten und dessen Kommunikationsziele und -voraussetzungen berücksichtigenden, ganzheitlichen Auseinandersetzung um die Patientenperspektive zu erweitern. Auch wenn sich in der Realität das Beziehungsgefüge in der Interaktion zwischen Arzt und Patient auf äußerst vielfältige Weise und in der ganzen Breite weit über die Kommunikation im engeren Sinne hinaus entfaltet, lässt sich der unmittelbarste und methodisch erprobteste Zugriff auf das Phänomen „Arzt-Patient-Interaktion“ über das Gespräch als basales Element im gesamten Kommunikations- und Interaktionsprozess herstellen.

      Im Gespräch kumulieren nicht nur medizinische, sondern auch über biomedizinische Faktoren hinausreichende Einflüsse, die ein gegenseitiges Verständnis und Verstehen erleichtern oder erschweren können. Nur auf Basis der Kenntnis und der Berücksichtigung solcher Einflüsse, die sich als sprachliche und außersprachliche Wissensbestände, Emotionen und individualstrategische Ziele beschreiben lassen, so die Annahme hinter der hier vorliegenden Untersuchung, ist eine effektive medizinische Behandlung im Sinne der Ganzheitlichkeit und darüber hinaus ihr nachhaltiger Erfolg möglich. Der Paradigmenwechsel, der mit dieser Betrachtungsweise verbunden ist, ist folgenreich: Standen und stehen traditionell und bisweilen gegenwärtig arztseitige Interessen und Vorstellungen im Zentrum kommunikativer Strategien und Bemühungen, so findet eine Abkehr von dieser arztzentrierten und auf Objektivierbarkeit hin ausgerichteten Kommunikationspraxis statt, indem patientenseitige Vorstellungen (ideas), Ängste (concerns) und Erwartungen (expectations) in den Prozess als zentrale (und zugleich gesprächsstrukturierende) Elemente integriert werden.1 Dieser Wechsel von der auf somatische Fakten begründeten und auf Krankheit ausgerichteten unidirektionalen Arzt-Patient-Kommunikation hin zu einer, die Gesamtheit des Patienten würdigenden, wechselseitigen Interaktion zwischen Arzt und Patient im Sinne eines (auch gesprächsinteraktional) partnerschaftlichen Austauschs, ist nachgerade als Ent-Ritualisierung in der ärztlichen Beziehungsgestaltung zu bezeichnen. Diese Veränderung, die nur durch einen Perspektivwechsel auf Seiten der professionell agierenden Akteure im Interaktionsprozess gelingen kann, entspricht zum einen den Forderungen der Patienten nach einer stärkeren Teilhabe an Ihrer Gesundheit (und zugleich dem gesellschaftlichen Trend nach stärkerer Individualisierung). Zum anderen ist sie – wie zahlreiche Studien, die den Grundstein für die nachfolgenden Überlegungen legen, zeigen – zwingen notwendig zur Sicherung wechselseitigen Verständnisses.

      Verständnis ist der passende Schlüssel zum Erfolg im therapeutischen Gesamtprozess. Nur derjenige Patient ist wirklich in der Lage, sich aktiv in diesen Prozess einbringen zu können, der über die notwendigen handlungsleitenden Informationen verfügt.

      Dabei steht außer Frage, dass es ein institutionell und situativ bedingtes Wissens- und Kompetenzgefälle zwischen Ärzten auf der einen und Patienten auf der anderen Seite gibt. Ziel gelingender Kommunikation ist beileibe nicht, dieses Gefälle umzukehren oder auszugleichen. Vielmehr muss es darum gehen, Patienten in der Zukunft mit dem nötigen Wissen auszustatten, welches sie dazu befähigt, die Anweisungen der Ärzte nachvollziehen zu können. Verständnis ist die Voraussetzung für Verhalten. Die Transparenz ärztlicher Entscheidungen versetzt Patienten in die Lage, ein Gefühl eigener Kompetenz im Gesamtprozess entwickeln zu können. Es geht nicht darum, den ärztlichen Wissensvorsprung zu verkleinern oder den Patienten durch eine Flut an Informationen an den Wissenshorizont der Ärzte anzugleichen. Nicht die Aufwertung der tatsächlichen (medizinischen) Kompetenz der Patienten führt zum Ziel, sondern der Prozess der Vermittlung eines Kompetenzgefühls. Nur dann, wenn Patienten das (subjektive) Gefühl entwickeln, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv im Behandlungsprozess integriert zu sein, werden sie diese aktive Rolle mit gewünschten Handlungsweisen ausfüllen. In der bisherigen Betrachtung von Partizipations- und Beteiligungsstrukturen in der Arzt-Patient-Interaktion spielt weniger der Aspekt der gewünschten Verhaltensweisen auf der Grundlage eines starken Kompetenzgefühls eine Rolle, als vielmehr patientisches Fehlverhalten und die Gründe dafür. So sind paternalistische Beziehungsmodelle, die in den letzten Jahrzehnten handlungsleitend waren und zugleich die etablierten Kommunikationstechniken bestimmt haben (z.B. klassische Frage-Antwort-Sequenzen mit starker arztseitiger Themensetzung), darauf ausgerichtet, mangelnde Therapieeinsichten, die quasi per se den Patienten aufgrund ihrer Laienrolle unterstellt wurden, durch eine straffe Führung in die gewünschte Therapietreue umzuwandeln. Eine solche Bevormundung des Patienten, die wohlmeinend oder fürsorglich gemeint sein kann, führt jedoch – wie wir heute wissen – nicht dazu, dass Patienten sich ihren Fähigkeiten und ihren Bedürfnissen entsprechend in den Prozess einbringen. Wir müssen ganz im Gegenteil davon ausgehen, dass das, was man früher