Sprachwandel - Bedeutungswandel. Sascha Bechmann

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Название Sprachwandel - Bedeutungswandel
Автор произведения Sascha Bechmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345368



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Hinsicht für Erkenntnisprozesse wesentlich sind. Vornehmlich sind es vier SprachauffassungenSprachauffassung, die Sprache als Gegenstandsbereich für die Wandelforschung konstituieren, wobei 2–4 sich als tauglich für Erklärungen erweisen, während 1 sich als untauglich erweist:

      1 Sprache als Organismus

      2 Sprache als komplexes Zeichensystem

      3 Sprache als Werkzeug und Tätigkeit

      4 Sprache als spontane OrdnungOrdnungspontane

      Betrachten wir im Folgenden diese wesentlichen SprachauffassungenSprachauffassung einmal etwas genauer – das Verstehen des Gegenstandsbereichs ist wichtig, um nachvollziehen zu können, warum sich Sprachen wandeln. Denn: Wenn man nicht weiß, was sich wandelt, wird man auch nicht erkennen können, auf welche Weise das geschieht. Wir werden sehen, dass insbesondere die Festlegung von Sprache als spontane OrdnungOrdnungspontane uns dabei hilft, den Sprachwandel verstehen und erklären zu können. Lassen Sie uns also im Folgenden gemeinsam ein paar Fragen stellen und nach plausiblen Antworten suchen.

      2.2 Welche SprachauffassungSprachauffassung ist die richtige?

      2.2.1 Ist Sprache ein Organismus?

      Die Frage danach, ob die Sprache etwas Lebendiges wie ein Organismus sei, enthält eine populäre MetapherMetapher. Metaphern sind dazu da, komplexe Sachverhalte bildhaft darzustellen, damit man sie besser verstehen kann. Nur leider sind Metaphern selten präzise, denn sie verdinglichen (hypostasieren) zu sehr. Die Organismus-Metapher im Zusammenhang mit dem Wesen von Sprache ist uns bereits begegnet. Es handelt sich dabei um eine SprachauffassungSprachauffassung, die auf den Prinzipien der Naturwissenschaft beruht. Sie ist entstanden in dem Bemühen, auch abstrakte geisteswissenschaftliche Phänomene exakt beschreiben zu wollen. Bedeutender Vertreter einer solchen Sichtweise ist der Indogermanist AUGUST SCHLEICHER. Seine Vorstellung kann man als organizistisch einstufen: Unterstellt wird eine Eigendynamik der Sprache, die durch den Sprachgeist als einer jeder Sprache immanente natürliche Kraft erklärt wird:

      Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften. (SCHLEICHER 1863: 6f)

      Was diese vitalistische MetapherMetapher vom lebendigen Organismus auf den ersten Blick zunächst einmal sinnvoll und richtig erscheinen lässt, ist der beobachtbare Umstand, dass sich Sprache ständig wandelt. Aus der Dynamik von Sprachen könnte man schlussfolgern, dass in ihnen eine vitale Kraft steckt, dass Sprachen also leben. Die Entwicklung von Sprachen könnte man dieser Sichtweise folgend als eine Art EvolutionEvolution bezeichnen, als einen Prozess also, der zu einer steten Weiterentwicklung der Sprache beiträgt. Ein Blick auf die zuvor im ersten Kapitel umrissene historische Entwicklung des Deutschen aus einer indogermanischen Ursprache würde diese These greifbar machen: Wie anhand eines Familienstammbaums lässt sich die Entwicklung der deutschen Sprache zurückverfolgen. Mehr noch: Wir erkennen auch Verwandtschaften und können sogar abstufen, mit welcher Sprache das Deutsche enger und mit welcher es entfernter verwandt ist.

      Nun hat diese Theorie einen entscheidenden Haken, weshalb eine organizistische Sprachbetrachtung in der Linguistik zwar in den letzten 150 Jahren intensiv diskutiert wurde und bis heute außerhalb der Sprachwissenschaften im Alltagsverständnis vom Werden und Wandel der Sprachen noch weit verbreitet ist, zur Erklärung des Sprachwandels aber nicht taugt. Der Haken liegt darin, dass eine solche Einschätzung dessen, was Sprache ist, den Sprecher mit seinen Handlungsmöglichkeiten außen vor lässt: „Der Wandel wurde [und wird in einer solchen Konzeption] als ein ausschließlich naturgesetzliches Phänomen angesehen“ (KELLER/KIRSCHBAUM 2003: 126). Vernachlässigt man nun aber die Sprachbenutzer, müssten Sprachen auch aus sich selbst heraus lebensfähig sein; schließlich ist ein Organismus ein in sich geschlossenes System. Dies trifft auf Sprachen jedoch nicht zu.

      [bad img format]AUGUST SCHLEICHER (1821—1868)

      war ein deutscher Sprachwissenschaftler. Er gilt als Begründer der Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachforschung und als Mitbegründer der Indogermanistik.

      SCHLEICHER ging davon aus, dass sich die Prinzipien der Evolutionsbiologie, die im 19. Jahrhundert populär wurden, auch auf die Entstehung und die Entwicklung von Sprachen übertragen ließen. In Form eines Stammbaums rekonstruierte SCHLEICHER die Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie aus einer indogermanischen Ursprache.

      Seine Sprachphilosophie gründet auf der Annahme, die Methodik der Sprachwissenschaft müsse derselben Methodik folgen, welche auch die Naturwissenschaften anwenden.

      Die Stammbaumtheorie gilt als richtungsweisende Leistung SCHLEICHERs für die Indogermanistik und ist noch heute von sprachhistorischem Wert.

      Die Vorstellung, dass Sprache ein lebendiger Organismus sei, wurde insbesondere im 19. Jahrhundert von der Mehrzahl der Sprachwissenschaftler vertreten. Erst WILLIAM DWIGHT WHITNEY lehnte ein solches Konzept ab und vertrat die wesentlich plausiblere These, dass Sprache kein NaturphänomenPhänomeneNatur-, sondern ein sozial bestimmtes Konstrukt sei. Nicht verborgene vitalistische Konzepte im Sinne naturwissenschaftlicher Festlegungen bestimmen das Wesen der Sprache. Sprachen werden vielmehr geprägt durch die Sprecher, die Sprachen zu ihren Zwecken verwenden.

      Diese neue und bis heute akzeptierte Sichtweise wirft allerdings dann ein Problem auf, wenn man die Rolle des Sprechers überbewertet. Sie könnte nämlich dazu verleiten, den Sprecher gewissermaßen zum Konstrukteur oder Schöpfer der Sprache und aller sprachlichen Veränderungen zu überhöhen. Dieser Eindruck ist falsch, weil man in einer Dichotomie gefangen ist, die nur NaturphänomenePhänomeneNatur- auf der einen und ArtefakteArtefakt auf der anderen Seite kennt: Entweder ist etwas ein natürliches Phänomen oder es ist vom Menschen gemacht. Was ist daran falsch? Nun, Sprache ist vom Menschen ‚gemacht‘, aber auf eine andere Art und Weise als beispielsweise ein Uhrwerk vom Menschen gemacht ist. Während das Uhrwerk das Ergebnis menschlicher Planung ist, ist die Sprache ungeplantes Ergebnis menschlicher Handlungen. Ich komme weiter unten auf diesen zentralen Gedanken noch einmal zurück.

      Halten wir zunächst fest:

      [bad img format]Sprache ist weder ein natürlicher Organismus noch das Resultat menschlicher Planung. Sprache ist das Ergebnis menschlicher Sprachverwendung. Dasselbe gilt auch für den Sprachwandel.

      Folglich ist eine SprachauffassungSprachauffassung, die den Sprecher nicht berücksichtigt und stattdessen von Naturgesetzen ausgeht, für die Erklärung des Wesens und der Veränderungen von Sprache nicht nützlich. Stattdessen lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wie eine Sprache beschaffen ist, damit wir sie für unsere Zwecke nutzen können. Sehen wir uns also im Folgenden an, welche Eigenschaften es sind, die Wörter und Sätze zu geeigneten Mitteilungsmitteln für uns machen.

      2.2.2 Ist Sprache ein Zeichensystem?

      Mit der Frage, aus welchen Elementen Sprachen bestehen, werfen wir einen strukturalistischen Blick auf unseren Gegenstandsbereich. Zugleich ist die Überlegung, wie etwas beschaffen ist, untrennbar verknüpft mit dem Nachdenken darüber, wozu etwas da ist. Wenn wir beispielsweise wissen, wie die Anatomie des Herz-Kreislauf-Systems aussieht, können wir leicht beantworten, wozu wir dieses System haben und was es in unserem Körper macht.

      Grob gesagt dient uns Sprache dazu, uns in der Gesamtgesellschaft, in der wir leben, untereinander möglichst ohne Missverständnisse verständigen können. Dazu verfügen alle Sprecher in dieser Sprachgemeinschaft über dieselben Wörter und Zeichen, also über dasselbe Lexikon und dieselbe Grammatik. Als Sprachforscher würde man sagen: Alle Sprachbenutzer können auf denselben gemeinsamen Zeichenvorrat zurückgreifen und kennen die Regeln, nach denen diese Zeichen miteinander verbunden werden. Man nennt die gemeinsam