Sprachwandel - Bedeutungswandel. Sascha Bechmann

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Название Sprachwandel - Bedeutungswandel
Автор произведения Sascha Bechmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345368



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existierende Sprachform treten kann.

      2 Diffusions- oder Verbreitungsphase: Die Neuerung wird durch frequente Verwendung im Sprachsystem verbreitet (mit oder ohne Auswirkungen auf eine bestehende Sprachform).

      3 ApprobationsphaseApprobationsphase: Die Neuerung setzt sich mehr und mehr durch (und verdrängt ggf. eine bestehende Sprachform).

      4 Normierung: Der Sprachwandel ist abgeschlossen, wenn die Neuerung zur Norm geworden ist. Eine bestehende Sprachform ist zu diesem Zeitpunkt entweder verschwunden oder es kommt zu einer Koexistenz.

      Während die Phasen 1 und 4 den Anfangs- und Endpunkt markieren, kann man die Phasen 2 und 3 zusammenfassend auch als NeuerungsausbreitungNeuerungsausbreitung (HAAS 1998: 844) bezeichnen. In der folgenden Skizze wird dieser Prozess des Sprachwandels vereinfacht dargestellt:

      Abb. 7

      4-Phasenmodell des Sprachwandels

      Wenn wir dieses Modell ein wenig spezifizieren und den Aspekt der FrequenzFrequenz, der für den Sprachwandel von entscheidender Bedeutung ist, mitberücksichtigen, ergibt sich die folgende differenzierte Darstellung:

      Abb. 8

      Erweitertes 4-Phasenmodell des Sprachwandels

      In Abbildung 8 können wir erkennen, dass der Ausgangspunkt für Sprachwandel in einem abweichenden Wortgebrauch liegt. Nun darf man das nicht so verstehen, dass jeder sprachliche FehlerFehlersprachliche zum Sprachwandel führen würde. Im Gegenteil:

      [bad img format]„Die allermeisten Fehler bleiben unbeachtete Eintagsfliegen.“ (KELLER/KIRSCHBAUM 2003: 10)

      Ein zweiter Blick auf Abbildung 8 zeigt, dass FrequenzFrequenz ein wesentlicher Motor für den Sprachwandel ist. Frequenz bedeutet: Viele Menschen verwenden dieselbe sprachliche Abweichung sehr häufig mit denselben Zielen. Wenn das geschieht, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass sich die Abweichung etablieren kann. Ein wichtiger Grundsatz lautet daher:

      [bad img format]Die systematischen Fehler von heute sind (bei hoher Ausbreitungsfrequenz) die neuen Sprachverwendungsregeln von morgen.

      KELLER/KIRSCHBAUM (2003: 9) schreiben dazu: „Der neue Sprachgebrauch wird zunächst einmal als fehlerhaft angesehen“. Das ist auch der Grund, warum Sprachkritiker Angst davor haben, dass Veränderungen des Systems zu einem Verfall desselben führen. Denn: Verstöße gegen Normen werden intuitiv als Gefahr eingestuft, was in vielen Fällen gesellschaftlicher Normverletzungen auch berechtigt ist. Wenn Sie sich beispielsweise ab heute entscheiden, an roten Ampeln nicht mehr anzuhalten, ist Ihr Tun nicht nur egoistisch, sondern zugleich gefährlich. Beim Sprachwandel sieht das anders aus, denn sprachliche FehlerFehlersprachliche – wenn sie kumulativ auftauchen – führen zu Normänderungen, die keine Gefahr, sondern in manchen Fällen eine Bereicherung für das System darstellen. Die Sprachkritiker bedenken nicht, dass „systematisch auftretende Fehler mit der Zeit ihren Charakter als Fehler verlieren und zu neuen Regularitäten werden“ (KELLER/KIRSCHBAUM 2003: 9).

      3.2.2 Welche Sprachen wandeln sich (und welche nicht)?

      Die Frage danach, welche Sprachen sich wandeln – oder richtiger: welche Sprachen durch das Handeln der Sprecher gewandelt werden –, hängt eng zusammen mit der Frage, ob es Sprachen gibt, die vom Wandel verschont bleiben. Ein Beispiel für eine Sprache, in der keine Wandelprozesse ablaufen, ist das IthkuilIthkuil. Warum diese – wie viele andere künstliche Sprachen – vom Sprachwandel verschont bleibt und wieso sich alle natürlichen Sprachen, die aktiv gebraucht werden, zwangsläufig wandeln müssen, möchte ich Ihnen an dieser besonderen Sprache zeigen.

      Das IthkuilIthkuil ist eine konstruierte Sprache, die von niemandem gesprochen wird, die aber von JOHN QUIJADA in den 1970er-Jahren mit dem Ziel erfunden wurde, alle Prinzipien natürlicher Sprachen zu vereinen. Das Resultat ist mehr ein sprachphilosophisches Spiel als der ernstzunehmende Versuch, eine natürliche Sprache zu erschaffen (was QUIJADA auch nicht beabsichtigt hatte). Das Ithkuil ist eine künstliche Sprache, die absolut perfekt wäre, wäre sie eine natürliche Sprache. Mit einem Haken: Das Ithkuil ist so perfekt, das es zum Sprechen nicht geeignet ist.

      Man kann mit einigem Recht behaupten, dass es sich bei dieser Kunstsprache um die wohl schwierigste Sprache der Welt handelt, weil es zugleich auch die wahrscheinlich komplexeste Sprache ist. Sie ist so komplex, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass man sie überhaupt erlernen kann. Das Deutsche ist – wie alle natürlichen Sprachen – ein überaus komplexes Zeichensystem, wie wir in Kapitel 1 erkennen konnten. Aber im Vergleich zum IthkuilIthkuil ist es eine eher einfache Sprache. Dabei ist das Deutsche gemessen an seiner grammatischen KomplexitätKomplexitätgrammatische auch insgesamt nicht so schwer zu erlernen wie andere Sprachen. Im Deutschen gibt es bekanntlich vier Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ) – nicht viel, wenn man sich die 15 Kasus des Finnischen vor Augen führt.

      Doch im Vergleich zum IthkuilIthkuil ist das Finnische eine Kindersprache. Das Ithkuil verfügt über 81 Kasus, es gibt insgesamt 65 Konsonanten (darunter aspirierte Konsonanten, Ejektive und Knacklaute) sowie 17 Vokale und es besteht lexikalisch aus 16200 Stämmen, die aus 900 Wurzeln abgeleitet sind. Auch das Schriftsystem ist nicht mit dem der deutschen Sprache vergleichbar: „Im Schriftsystem ist lautliche und morphologische Information kodiert, die Schreibrichtung ist wie bei alten griechischen Inschriften bustrophedonal […], d.h. sie geht von links nach rechts und von rechts nach links“ (SCHLOBINSKI 2014: 35). Damit Sie sich ein besseres Bild von einer bustrophenodalen Schreibweise machen können, versuchen Sie einmal, den folgenden Text in englischer Sprache zu lesen:

      THE ITHKUIL SCRIPT IS WRITTEN IN A HORIZONTAL BOUSTROPHEDON

      TNEUQESBUS YREVE DNA TSRIF EHT HCIHW NI ,RENNAM (GAZ-GIZ ,.E.I)

      ODD-NUMBERED LINE OF WRITING IS WRITTEN LEFT-TO-RIGHT, WHILE

      -TIRW FO ENIL DEREBMUN-NEVE TNEUQESBUS YREVE DNA DNOCES EHT

      ING IS WRITTEN RIGHT-TO-LEFT.

      Die Schrift des IthkuilIthkuil, die man Içtaîl nennt, ist eine morpho-phonemische Schrift, eine Schrift also, die Angaben zur lautlichen Realisierung der Schriftzeichen enthält. Wenn man alle möglichen Kombinationen von Teilsymbolen zusammenrechnet, ergibt sich eine Summe von 3606 Schriftzeichen in der Ornamentalschrift das Ithkuil.

      Der folgende Beispielsatz soll Ihnen die KomplexitätKomplexität vor Augen führen (die englische Übersetzung finden Sie unter dem Beispielsatz):1

      Tram-mļöi hhâsmařpţuktôx.

      On the contrary, I think it may turn out that this rugged mountain range trails off at some point.

      Die Idee hinter der Erfindung des IthkuilIthkuil war, eine Sprache zu konstruieren, die absolut exakt ist und die all das ausschließt, was in natürlichen Sprachen zu Verständigungsproblemen führen kann.

      Exaktheit einer Sprache führt aber zwangsläufig dazu, dass sie für Sprecher nicht taugt: Deren HandlungsmaximenMaximeHandlungs- beim Kommunizieren sind nämlich nicht auf völlige Vermeidung von Missverständnissen und auf sprachliche Präzision ausgerichtet, sondern auf die BeeinflussungBeeinflussung des Gegenübers. Damit das gelingen kann, muss eine Sprache offen sein für InnovationenInnovation, was gleichbedeutend ist mit einer Offenheit für sich wandelnde individuelle kommunikative StrategienStrategie.

      Das IthkuilIthkuil hingegen ist ein komplexes und in sich geschlossenes System. Diese Sprache ist so perfekt, dass sie sich nicht verändern kann. Es gibt hier weder einen Grund noch eine Möglichkeit zur Veränderung. Wäre dies eine natürliche Sprache, dann würde jeder Sprecher ganz exakt dieselbe Sprache sprechen, VariationenVariation wären völlig ausgeschlossen. Damit wären weder der fehlerhafte Gebrauch von Sprache möglich noch innovative Wortverwendungen abseits der Norm, aus denen sich nicht selten